Die bekannte Schweizer Bergsteigerin Evelyne Binsack: „Der dramatische Wandel in den Alpen bewegt mich. Grundsätzlich ist es wichtig, sich mit Gleichgesinnten zu treffen und zu reden. Andere berühren zu können und selber auch emotional berührt zu werden.“ Bild: John Rohn
Evelyne Binsack: In 40 Jahren ist viel passiert. Es hat sich viel verändert in den Bergen. Ein Beispiel ist der Zustieg zur Konkordia-Hütte. Früher musstest du runterklettern, um die Leiter für die Hütte zu besteigen. Heute steigst du im Geröll auf. Denn der Gletscher kommt gar nicht mehr bis zum Fels hin. Das sind 100 bis 150 Höhenmeter, die in den letzten 40 Jahren dazugekommen sind und die es zu überwinden gilt. In den vergangenen Jahren verloren die Gletscher an heissen Tagen pro Tag 14 Zentimeter. Das ist unglaublich. Früher war es bei dem riesigen Volumen weniger sichtbar. Jetzt sehen wir bei verschiedenen Gletschern, wie schnell die kümmerlichen Reste verschwinden.
Im Hochsommer sind die Gletscher oft so eine graue Masse. Es gibt keinen Übergang mehr. Und sieht so aus, als ob der Gletscher am Schwitzen ist. In einer permanenten Wallung.
„Es war, als ob der Gletscher mir gesagt hätte: ‚Weisst du, ich bin alt!'“
Ich spüre eine grosse Nostalgie, wenn ich auf den Gletschern bin. Und andererseits sage ich mir: Evelyne, schau es jetzt an! Das ist die gute alte Welt. Ich hatte einst ein fast schon telepathisches Erlebnis. Ich war in der Finsteraarhornhütte und schaute Richtung Fieschergletscher. Er war schon nahe am Verschwinden, hatte keinen Firn mehr. Ich schaute den also an und es war mir, als ob er mir gesagt hätte: «Weisst du, ich bin alt!» Das tönt jetzt super esoterisch. Aber es war so. «Ich sterbe jetzt halt, dann kann ein Neuanfang kommen.» Das kam bei mir an. Ich dachte mir dann, dass dies auch eine Betrachtungsweise ist. Alles auf der Erde ist ein Sterben und Entstehen.
Keine Kunstperformance, sondern die zerrissenen Abdeckungen über dem schmelzenden Rhonegletscher. Bild: istock.com
Es ist schon so, dass sich niemand gerne einschränkt. Aber es braucht Regulation. Ich persönlich mag es auch gar nicht, wenn ich reguliert werde. Nur: Wenn wir nicht fähig sind, selber Abstriche zu machen und zu einem nachhaltigeren Leben zu finden, wird uns das dann alles früher oder später aufgezwungen.
„Wir sollten den Klimaschutz stark mit dem Naturschutz verbinden, dann wäre schon viel gewonnen“
Es läuft sicher nicht alles in die richtige Richtung. Aber wenn ich morgens um zwei Uhr in einer Hütte starte, mit dem Lichtkegel meiner Stirnlampe vor mir, mache ich manchmal auch ein paar Schritte in die falsche Richtung, bis ich merke: ich habe den Weg verloren. Es wird Irrwege geben. Aber wichtig ist, dass wir uns auf den Weg begeben. Wir sollten den Klimaschutz stark mit dem Naturschutz verbinden, dann wäre schon viel gewonnen.
Wir nutzen den Raum vor allem zu intensiv. Als Bergführerin bin ich natürlich nicht am Hebel, um hier tatkräftige Lösungen anzubieten oder vorzuschlagen. Sollen wir beispielsweise den Tourismus regulieren? Ich als Bergführerin werde jetzt schon reguliert, weil ich nur noch einen Gast ans Seil nehmen kann. Denn die Berge und Gletscher sind durch den Klimawandel viel zu unberechenbar geworden. Das heisst, ich verdiene vier Mal weniger, als wenn ich vier Gäste am Seil habe. Wenn wir den Tourismus regulieren wollen, hat dies natürlich tiefgreifende Auswirkungen auf die Hotellerie und viele Arbeitsplätze im Alpenraum. Aber…
„Der Zuwachs der Touristen ist im Alpenraum über der Schmerzgrenze“
…gleichzeitig sehe ich den markanten Zuwachs der Touristen aus Asien oder Amerika. Das ist im Alpenraum schon über der Schmerzgrenze. Es gibt natürlich einige Köpfe im Tourismusverband, die es bis auf die Spitze treiben, um Erfolge mit noch besseren Gästezahlen zu feiern. Ich bin sicher, dass wir uns in Zukunft in dieser Hinsicht einschränken müssen. Das ist unvermeidbar. Die Frage ist, wie wir das schaffen. Da gibt es wohl keine einfachen Antworten.
Das ist schon so. Ich passe darum gewisse Abläufe an, stehe früher auf und gehe entsprechend früher los. Vor kurzem waren zwei Gäste eher langsam unterwegs. Ich wollte verhindern, dass sie in der Mittagssonne völlig exponiert sind. Also haben wir alles sehr früh in den Morgen geschoben. Der Gipfelgrat am Mönch ist so exponiert, dass ich heute eher nur einen Gast ans Seil nehme. Ich schlafe unter Umständen in der Mönchsjochhütte, damit ich morgens um vier Uhr los kann. Statt schön gemütlich im eigenen Bett zu schlafen und dann mit der ersten Bahn um sieben Uhr hochzufahren. Darum habe ich unlängst auch eine Tour abgesagt, weil ein Gast nicht in der Mönchsjochhütte übernachten wollte.
Evelyne Binsack beim Klettern an den Wendenstöcken im Berner Oberland, welche die weltweit schwierigsten alpinen Sportkletterrouten beherbergen. Bild: John Rohn
Klar. Die Aufgabe wäre gewesen, mit ihm auf den Mönch, zurück und in die Mittellegihütte zu gehen. Ich sagte, wenn, dann will ich um elf spätestens zurück auf dem Jungfraujoch sein. Von dort kannst du eine Station runterfahren, dann aufs Eismeer und zur Hütte traversieren. Auf der Eigersüdwand bist du natürlich exponiert für Steinschlag. Letztlich machte ich es nicht und verzichtete auf das Geld.
„Zwei oder drei Grad Celsius auf 4500 Metern – das gab es früher einmal pro Sommer“
Der Wetterbericht zeigt auf Höhe von 4500 Metern, das ist etwa die Höhe des Dom im Wallis, schön öfter zwei oder drei Grad Celsius an. Früher gab es das vielleicht einmal pro Sommer. In den vergangenen Wochen lag die Nullgradgrenze auf 5100 Metern. Das sind noch einmal 300 Meter über dem Mont Blanc. Die Problematik mit dem Permafrost besteht. Wir hatten diesen Frühling ja recht viel Schnee. Aber der ist durch die Wärme geschmolzen und dieses Wasser fliesst auch ins Gestein und weicht den Permafrost zusätzlich auf. Und früher gab es auch das Phänomen kaum, dass es bis auf 4500 Meter regnet.
„Muss ich es noch erleben, dass das Becken der Aare einmal leer sein wird?“
Ich wohne ja im Berner Oberland in der Nähe des Rosenlaui-Gletschers. Oft fahre ich mit dem Bike der Aare entlang. Dort ist ja die Aare extrem jung und dreckig. An einem Hochsommertag führt die soviel Wasser, es ist unglaublich. Da habe ich mich auch schon gefragt: Muss ich es noch erleben, dass dieses Becken einmal leer sein wird? Aber ich frage Sie zurück: Wie geht es Ihnen dabei, wenn sie sich jeden Tag der Woche damit beschäftigen?
Ja, solche Erlebnisse sind natürlich prägend. Gerade wenn Kinder die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit der Natur begreifen. Das treibt jetzt auch mir die Tränen in die Augen. Das ist es ja, was wir den Kindern weitergeben können. Dass wir ihnen die Natur zeigen, näherbringen. Damit sie den Wert der Natur verstehen. Die Eltern nahmen mich früher ständig mit nach draussen. Ehrlich gesagt war es mir oft zuviel. Schon wieder spazieren! Wieder wandern! Schon wieder in die Berge! Ich habe mich ab und zu beklagt. Aber rückblickend war es unbezahlbar, was die Eltern uns damals mit auf den Weg gaben.
„Für mich bräuchte es in der Schule auch eine bessere Auseinandersetzung damit, wieviel ein Mensch braucht“
Für mich bräuchte es in der Schule auch eine bessere Auseinandersetzung damit, wieviel ein Mensch braucht. Was ein gutes Leben ausmacht und was Gier ist. Wo werde ich in die Gier verführt? Wir sollten ein anderes Bewusstsein lernen.
Evelyne Binsack 2017 auf dem Weg zum Nordpol. Bild: zvg
Auf dem Weg Richtung Guttannen im Berner Oberland gibt es eine Abzweigung Richtung Leen, dort hat es nur ein paar Bauernhöfe. Die wurden wegen eines Murgangs vor ein paar Jahren evakuiert. Aber die Leute wollten zurück in ihr Heimetli. Denn das ist alles, was sie haben. Ich glaube, dass wir alles daran setzen müssen, diese Wohnorte für die Leute zu erhalten. Mit möglichst natürlichem Schutz. Ob das jetzt Moore sind, welche als Wasserspeicher fungieren, oder Schutzwald.
„Ich glaube schon, dass ich die Natur besser verstehe. Und ich bin auch dankbarer als früher“
Wenn du jung und draufgängerisch bist, interessieren dich die Höhenmeter, die Zeit und der Schwierigkeitsgrad. (lacht) Wir hatten die steilen Wände, konnten noch Dinge erobern. Das können die Jungen von heute kaum mehr. Überall war schon einmal jemand. Aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich glaube schon, dass ich die Natur besser verstehe. Und ich bin auch dankbarer als früher. Das ist wahrscheinlich eine Alterserscheinung. In jungem Alter kannst du das vielleicht auch gar nicht.
Da ist dein Körper so voller Kraft und Saft – du hast genug damit zu tun, ihn zu regulieren. (lacht) Aber heutzutage spüre ich die Erde sehr intensiv. Gerade wenn ich unterwegs bin und in einem Schlafsack auf einem Mätteli schlafe. Das ist ganz etwas anderes als in einem Bett innerhalb eines Hauses. Ich verliere das selbst in einem Holzchalet, wenn es ein Betonfundament hat. Diese Verbundenheit mit der Erde muss man selber erlebt haben, damit man sie versteht.
„Es ist wichtig, dass wir diese Gefühle zulassen, wenn wir uns ohnmächtig oder traurig fühlen. Und diese Maske ausziehen dürfen“
Grundsätzlich ist es wichtig, sich mit Gleichgesinnten zu treffen. Andere berühren zu können und selber auch emotional berührt zu werden. Da haben wir als Menschen auch einen grossen Nachholbedarf. Dass wir diese Gefühle zulassen, wenn wir uns ohnmächtig oder traurig fühlen. Und diese Maske ausziehen dürfen.
Evelyne Binsack, 57, ist die berühmteste Schweizer Bergsteigerin und Abenteurerin. Sie wuchs in Hergiswil (NW) auf und bestieg als erste Schweizerin den Mount Everest im Gipfel-Alleingang (2001), erreichte als weitere Highlights ihrer Laufbahn den Südpol (2007) und den Nordpol (2017). Heute arbeitet sie als Bergführerin und Referentin und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Zuletzt 2017 das Buch «Grenzgängerin – Ein Leben für drei Pole». Sie trat auch am Forum Sustainable Switzerland auf, wo sie über den alpinen Lebensraum referierte.
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