Velofahrer auf einer verkehrsberuhigten Strasse in Berlin: Der Autoverkehr wird weniger, denn das Auto wird viel weniger gebraucht, wenn Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze in der Nähe liegen. Bild: istock.com
Das ist eine Stadt, die aus einem Netz von 10-Minuten Nachbarschaften besteht. Innerhalb einer 10-Minuten-Nachbarschaft, die auf einer Fläche mit einem Radius von 500 Metern liegt, leben mindestens 10’000 Einwohnende. Und dort arbeiten mindestens 5000 Beschäftigte in Vollzeitäquivalenten. Die Stadt als Ganzes sollte dieses Verhältnis nahe bei 2:1 zwischen Einwohnenden und Beschäftigten in Vollzeitäquivalenten haben. So wie wir es vor 60 Jahren noch hatten. Den Flächenkonsum für das Wohnen und die Mobilität könnten wir mit derart kompakten Siedlungsformen stark reduzieren.
„Die Leute erreichen die Geschäfte und Freizeitangebote zu Fuss“
Die Menschen, die in der Stadt arbeiten, können auch hier wohnen und haben kurze Wege im Alltag. Sie erreichen die Geschäfte und Freizeitangebote zu Fuss, haben bestenfalls sogar den Arbeitsort im erwähnten Radius. Oder aber sie erreichen den ÖV zu Fuss in maximal 10 Minuten und können zur Arbeit pendeln.
„Das Auto wird nur noch benötigt, um mal einen Ausflug an einen entlegenen Ort zu machen“
Das Auto wird nur noch benötigt, um mal einen Ausflug an einen entlegenen Ort zu machen. Diese Stadt ermöglicht eine öffentliche Erdgeschossnutzung mit Geschäften, Cafés, Restaurants. Und in den ersten Geschossen ist die Gemeinschaftspraxis, das Fitnessstudio und die Kita. Darüber wird gewohnt. Die öffentlichen Flächen können natürlich durchgrünt sein, weil es wesentlich weniger Parkplätze braucht. Es entsteht ein attraktiver Lebensraum für Fussgängerinnen und Fussgänger. Das hat den schönen Effekt, dass wir uns mehr und bis ins hohe Alter bewegen. Denn vieles können wir im Alltag in Gehdistanz erreichen.
„Rund um den Idaplatz gibt es in einem 500-Meter-Radius 15’000 Menschen und es gibt 7500 Beschäftigte“
Es gibt einige Beispiele in der Schweiz, wo wir dies erreichen. Beispielsweise in Zürich rund um den Ida- und Brupbacherplatz. Hier wohnen und arbeiten in einem 500-Meter-Radius 15’000 Menschen und es gibt 7500 Beschäftigte in Vollzeitäquivalenten. Die Häuser verfügen über vier bis sechs Geschosse. Für die Geschäfte und Gastronomie ist es sehr attraktiv. Weil sie genug Laufkundschaft haben. Das Quartierleben ist vielfältig und die ÖV-Anbindungen sind optimal. Da hilft es auch, dass das Quartier verkehrsberuhigt ist.
Ähnliche Verhältnisse haben wir etwa rund um den Lindenplatz in Altstetten, im Matthäusquartier in Basel. In Bern gibt es das Breitsch-Quartier, wobei hier das Verhältnis eher 1:1 ist. Die Kleinstadt Vevey am Genfersee hat ebenfalls um den Bahnhof herum ein ideales Verhältnis von 2:1.
„Bei weniger Einwohnenden oder Beschäftigten können sich Geschäfte und Gastronomie nur sehr schwer etablieren und der ÖV-Takt wird dünner“
Rund um den Idaplatz Zürich gibt es bereits ein ideales Verhältnis von Einwohnern zu beschäftigten Personen. Grafik: Sybille Wälti
Das ist simpel. In der Schweiz kommt eine Vollzeitstelle auf zwei Einwohnende. Denn ein Teil der Bevölkerung ist zu jung oder zu alt, um zu arbeiten. Und ein Teil arbeitet aus anderen Gründen in Teilzeit oder gar nicht. Die 10’000 Einwohnenden und rund 5000 Vollzeitstellen ergeben sich daher, dass ab dieser Grössenordnung das Quartierleben mit Geschäften und Gastronomie gut funktioniert. Und der ÖV ist entsprechend den Bedürfnissen der Menschen vor Ort angepasst.
Bei weniger Einwohnenden oder Beschäftigten können sich Geschäfte und Gastronomie nur sehr schwer etablieren und der ÖV-Takt wird dünner. Dann entscheiden sich viele Menschen doch für das Auto oder sind darauf angewiesen.
„Gemeinden haben sich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen konzentriert, weil das mehr Rendite bringt“
In den letzten Jahrzehnten haben viele Gemeinden und insbesondere Städte sich auf die Schaffung von Arbeitsplätzen konzentriert, weil das mehr Rendite bringt. Sie sparen dadurch Infrastrukturkosten. Beispielsweise braucht es weniger Schulen und Sportanlagen. Wohnraum schaffen sie nach wie vor in den Dörfern ausserhalb der Städte. Das führt zur bekannten Zersiedelung und treibt den Verkehr an. Der Detailhandel zieht dann in Einkaufszentren. Und die hat man auf der grünen Wiese zwischen den Dörfern neu erstellt.
Die Menschen nehmen zwar zum Arbeiten in der Stadt den öffentlichen Verkehr, jedoch zum Einkaufen und in der Freizeit das Auto. Das führt zu Dichtestress auf den Strassen mit Staus und überfüllten Zügen und Bussen. Es werden mehr Strassen, Autobahnzufahrten und Autobahnspuren gebaut. Und das führt natürlich zu einem Teufelskreis mit immer mehr Verkehr und verstreuten Wohnsiedlungen.
„In der Stadt Zürich muss fast die Hälfte der Beschäftigten pendeln“
Ja, die Städte Aarau und Baden haben Gebiete mit 15’000 Beschäftigten aber kaum 5000 Einwohnenden. Oder nehmen wir die Stadt Zürich, wo heute das Verhältnis nahe 1:1 ist und per se die Hälfte der dort beschäftigten Personen pendeln muss. Sie leben in den umliegenden Dörfern und müssen mit dem Auto oder ÖV ins Zentrum fahren. Und gerade in den kleinen Dörfern lohnt sich der 8-Minuten-Takt für die Busbetriebe nicht, also nehmen noch mehr Menschen das Auto, weil der Bus nur alle 15 oder 30 Minuten fährt.
„Langfristig könnten wir den Autoverkehr um die Hälfte reduzieren, wenn nur schon etwa ein Drittel der Bevölkerung in 10-Minuten-Nachbarschaften leben würde“
Untersuchungen zeigen, dass in einer 10-Minuten-Nachbarschaft gut 60 Prozent der Wege zu Fuss zurückgelegt werden, aber nur 15 Prozent mit dem Auto. Bei 2500 Einwohnenden und weniger im 500-Meter-Radius, also so wie ein Grossteil der Schweiz wohnt, wird die Hälfte der Strecken mit dem Auto zurückgelegt und ein Drittel zu Fuss. Und wenn Sie jetzt überlegen, dass Sie die 2500 Menschen noch mal vier rechnen müssen, damit sie auf die gleiche Anzahl Einwohnende kommen wie in einer 10-Minuten-Nachbarschaft, dann haben wir ein Vielfaches an Autofahrten. Umgekehrt könnten wir langfristig den Autoverkehr um die Hälfte reduzieren, wenn nur schon etwa ein Drittel der Bevölkerung in 10-Minuten-Nachbarschaften leben könnte.
„Die 15-Minuten-Stadt kennt im Gegensatz zur 10-Minuten-Nachbarschaft keine fixen Kriterien“
Naja, es gibt keine eindeutige Definition, keine fixen Kriterien für die 15-Minuten-Stadt. Für die einen gelten die 15 Minuten mit dem Velo oder mit dem ÖV, für die anderen ist es zu Fuss. Es gibt auch kein Personendichten oder ein Verhältnis von Einwohnenden und Beschäftigten, nach dem man sich beim Konzept der 15-Minuten-Stadt richten könnte. Wenn die Leute 15 Minuten gehen müssen, dann ist das schon zu weit und sie nehmen dann eben doch das Auto.
Das Konzept der 10-Minuten-Nachbarschaft fokussiert auf 10-Gehminuten. Es orientiert sich daran, welche Distanzen die Menschen bereit sind, zu Fuss zurückzulegen und an den eingangs erwähnten Kriterien. Übrigens gibt es auch Erhebungen für den ÖV. Man weiss, wenn die Menschen einfach rausgehen können und etwa alle 8 Minuten ein Bus oder Tram kommt, dann tun sie das auch und verzichten problemlos auf das Auto.
Kommt cirka alle 8 Minuten ein Bus oder Tram, verzichten die Menschen problemlos aufs Auto – wie hier in Basel. Bild: istock.com
Ja, es hätte genug Platz für Grünflächen, weil viel weniger Autos unterwegs sind und dadurch Flächen frei werden. Und auch ein Strassencafé muss nicht auf Asphalt stehen, sondern kann auf einem durchlässigeren Kiesplatz sein. Es gäbe viele Möglichkeiten, die in der 10-Minuten-Nachbarschaft allemal Platz haben, wir müssten sie einfach umsetzen. Allerdings wird das bei Projektierungen allgemein meist noch gar nicht berücksichtigt.
„In dicht bebauten Gebieten könnte es im Sommer kühler sein, wenn man Grün- und Blauraum schafft“
Es werden ja regelmässig Klimakarten für Stadtgebiete oder Quartiere erstellt. Da wird dann geschaut, wie heiss es im Jahr 2050 an einem bestimmten Ort werden kann. Leider werden dabei mögliche Entsiegelungen oftmals gar nicht berücksichtig und dann entsteht der Eindruck, dass es in dicht bebauten Gebieten zwangsläufig sehr heiss wird. Weil niemand schaut, wie viel kühler es dort sein könnte, wenn man mehr Grün- und Blauraum schafft – also mit Pflanzen und Wasser arbeitet.
Das passiert überall dort, wo kein zusätzlicher Wohnraum geschaffen wird. Wenn man aber zeitgleich mit Aufwertungsmassnahmen zusätzlichen Wohnraum schafft, dann passiert das weniger, weil das Angebot die Nachfrage abdeckt, statt dass die Nachfrage plötzlich viel grösser ist als das Angebot.
„Viele Grundeigentümer bauen lieber in Dörfern, weil es dort wirtschaftlicher und einfacher ist“
Insbesondere die Städte machen ihre Bauzonen-Revisionen nicht so, dass die nötigen Wohnungen gebaut werden könnten. Wenn da, wo es möglich wäre, lange nicht gebaut wird, dann ist das für mich ein Indiz, dass bei den Regeln etwas schiefgelaufen ist. Dass es sich für die Grundeigentümer nicht lohnt, zu bauen, weil es nicht wirtschaftlich ist. Die bauen dann einfach lieber Wohnungen in den Dörfern, weil es dort einfacher und wirtschaftlicher ist. Man müsste an geeigneten Orten mehr Wohnraum schaffen können. Wenn sich die Behörden dann durchringen und ein Stockwerk mehr erlauben, dann ist das ein Tropfen auf den heissen Stein. Sie müssen bedenken, dass selbst wenn eine Grundstückbesitzerin eine Etage höher baut, dann wird sich da die nächsten 50 Jahre nichts mehr ändern, selbst wenn in 20 Jahren plötzlich fünf Stockwerke zusätzlich erlaubt wären. Die würde man erst wieder aufstocken, wenn 50 Jahre später auch eine Sanierung fällig wird. Wir verlieren also viel Zeit.
Ja das stimmt. Das Raumplanungsgesetz schreibt vor, dass wir Siedlungen nach innen entwickeln sollten, dass wir haushälterisch mit dem Boden umgehen und dass Siedlung und Verkehr aufeinander abgestimmt werden. Nun sind dort natürlich keine konkreten Werte festgelegt. Aber es gibt Studien zum Verkehrsverhalten, zu den Infrastrukturkosten, zudem haben wir uns Klimaziele gesetzt. Diese Daten hat man und deshalb weiss man eigentlich, welche Art von Siedlungsstruktur welche Folgen nach sich zieht. Und man weiss, dass die Richtpläne, wie sie bisher erstellt wurden und oftmals noch immer erstellt werden, die Zersiedelung vorantreiben. Umgekehrt wüsste man, was zu tun wäre, um das zu verhindern.
„Man pflanzt die Menschen irgendwohin in die Dörfer, obwohl viele gerne in der Stadt leben würden“
Nehmen wir das Limmattal: Weil es in der Stadt Zürich zu wenig Wohnungen gibt, wurden die Menschen in die Gemeinden im Limmattal gedrängt. Also hat man dort mehr Wohnungen gebaut und musste unter anderem mit der Limmattalbahn und besseren S-Bahnverbindungen die Verkehrskapazität erhöhen. Nun hat man dort eine urbane Verkehrsinfrastruktur, die eigentlich auch eine städtische Siedlungsstruktur braucht. Ziel müsste es sein, in diesen Gemeinden um die S-Bahn- und Tram-Haltestellen 10-Minuten-Nachbarschaften zu schaffen, sodass mehr Menschen vor Ort arbeiten oder zumindest im Homeoffice arbeiten können und dann alle weiteren Dinge in Gehdistanz finden. Wenn man aber einfach mehr Wohnraum schafft, dann wird es mehr Autoverkehr geben oder noch schlimmer, es werden mehr Arbeitsplätze im Limmattal geschaffen, ohne dass mehr Wohnraum entsteht.
Genau. Die Leute müssen dann wieder von anderen Dörfern in die Limmattalgemeinden kommen, um zu arbeiten – es kommt zur Zersiedelung, weil Siedlung und Verkehr nicht aufeinander abgestimmt sind. Und weil draussen in den Dörfern nur gewohnt wird, aber kaum gearbeitet und der ÖV weniger eng getaktet ist, müssen wieder mehr Leute das Auto nehmen, um irgendwo hinzukommen. Das braucht dann mehr Strasse und irgendwann mehr Autobahn. All diese Folgen kennen die Stadtplanerinnen und -planer, sie sind auch den Behörden bekannt. Aber man pflanzt die Menschen irgendwohin in die Dörfer, obwohl viele gerne in der Stadt leben würden. Das ist es, was in der Richtplanung falsch läuft. Und zwar auch, weil schon die Kantone und letztlich der Bund, der ja die kantonalen Richtpläne genehmigt, das Raumplanungsgesetz nicht umsetzen.
„Dichtestress haben die Menschen nicht in den Quartieren, sondern dort, wo viel Autoverkehr und Stau entsteht oder der ÖV überfüllt ist“
Eine Wohnsiedlung mit Grünraum inklusive kleinen Gärten – hier entsteht auch weniger Drang, ins Grüne zu fahren. Bild: istock.com
Ja, in unseren Umfragen ist das Feedback meist positiv, wenn die Leute eine konkrete Vorstellung bekommen, was so eine 10-Minuten-Nachbarschaft ausmacht. Dann sind sie sehr offen und die meisten sind auch sehr pragmatisch. Gerade in der Stadt ist den meisten Befragten klar, dass es mehr Wohnungen braucht. Da ist man auch gegenüber Hochhäusern mit vielleicht 10 oder 15 Stockwerken offen. Übrigens: den sogenannten Dichtestress haben die Menschen nicht in solchen Quartieren, sondern dort, wo viel Autoverkehr und Stau entsteht oder der ÖV überfüllt ist. Und das ist eine Folge der Zersiedelung und weniger der Anzahl Menschen.
„Die Grundstückbesitzer bauen lieber auf der grünen Wiese, wo es einfacher und lukrativer ist, statt in der Stadt, wo wir die Wohnungen brauchen“
Raumplanung und Städtebau, das ist sehr komplex und es gilt viele unterschiedliche Interessen abzuwägen. Oftmals wird in der Politik aber auch vom falschen Ende her gedacht. Da heisst es dann, es braucht mehr günstigen oder gemeinnützigen Wohnraum und es entstehen unattraktive Regeln für Grundstückbesitzer. Die bauen dann lieber auf der grünen Wiese, wo es einfacher und lukrativer ist, statt in der Stadt, wo wir die Wohnungen brauchen. Würden wir in der Stadt deutlich mehr Wohnungen bauen, dann würde auch der Druck auf die Mieten abnehmen. Vorausgesetzt natürlich, man schafft nicht gleichzeitig wieder deutlich mehr Arbeitsplätze, sondern kommt ungefähr auf dieses Verhältnis von 2:1. Gemeinnützigen Wohnraum kann man dann ebenfalls schaffen.
Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, wir schauen den Behörden zu wenig auf die Finger. Oftmals wenn, man fragt, warum an dieser oder anderer Stelle nicht dichter gebaut wird, kommen dann inhaltsleere Antworten. Weil man es gar nicht ausreichend geprüft hat. Oder dann heisst es: «Die Leute wollen das nicht». «Ja, habt ihr sie denn gefragt?», und dann ist die Antwort «Nein» oder sie winden sich heraus. Oftmals hakt auch gar niemand nach, weil es eben komplex ist. Die grossen Investoren, die ja noch ein gewisses Gewicht hätten, bauen dann einfach in einer anderen Gemeinde, wo es noch einen grünen Flecken hat und attraktivere Spielregeln. Und letztlich ist es für eine Stadt und eine Gemeinde einfach lukrativer, Arbeitsplätze zu schaffen statt Wohnraum. Fürs Arbeiten lässt man auch gerne viel höhere Nutzungsdichten zu als fürs Wohnen.
„Schliesslich können die Leute ja in Bülach und Spreitenbach wohnen. Selbst wenn sie das nicht wollen“
Plötzlich entsteht der scheinbare Konsens, dass es völlig normal und optimal ist, dass die Stadt Zürich die Arbeitsplätze fast verdoppelt hat innert 60 Jahren, aber bei den Einwohnenden das Wachstum netto Null ist. Schliesslich können die Leute ja in Bülach und Spreitenbach wohnen. Selbst wenn sie das nicht wollen. Da müsste der Kanton eingreifen und sagen, dass das so nicht geht, weil das Raumplanungsgesetz nicht eingehalten wird.
Aber wenn wir die nächste Million Zuzügerinnen und Zuzüger so verteilen können, dass mehr solche Nachbarschaften entstehen, dann würde eben nicht nur diese Million neu in solchen Quartieren leben. Sondern vielleicht drei Millionen. Beispielsweise kann ein Stadtteil, der bereits 7000 Einwohnende hat, mit zusätzlichen 3000 Personen zu einer 10-Minuten-Nachbarschaft werden.
„Auch WGs für Seniorinnen und Senioren werden immer gefragter“
Nimmt die Anzahl der Einwohner im 500-Meter-Radius zu, nimmt der Autoverkehr drastisch ab. Grafik: Sybille Wälti
Nein, es gibt heute schon Wohnformen, die diese Entwicklung auffangen. Beispielsweise Clusterwohnformen, wo sich mehrere kleine Wohnungen um den gemeinsam genutzten Küchen- und Wohnraum gruppieren. Auch WGs für Seniorinnen und Senioren werden immer gefragter. Es ist ja auch nicht so, dass ältere Menschen per se alleine in einem grossen Haus leben wollen, sondern meist fehlt es an Alternativen oder eben geeigneten und bezahlbaren Wohnungen.
„Wenn es weniger motorisierten Individualverkehr gibt, bleibt mehr Platz für grüne Bänder, die sich durch mehrere Quartiere ziehen und zum Joggen, Flanieren oder Radfahren einladen“
Diese Gefahr besteht so oder so, wenn die Bevölkerung wächst. Gleichzeitig verschwinden mit der heutigen Handhabe der Raumplanung täglich acht Fussballfelder unbebautes Land. Im Gegensatz dazu soll die 10-Minuten-Nachbarschaft mehr Platz für Grünflächen schaffen. Wenn es weniger motorisierten Individualverkehr gibt, bleibt mehr Platz für Pocket-Parks. Vielleicht auch grüne Bänder, die sich durch mehrere Quartiere ziehen und zum Joggen, Flanieren oder Radfahren einladen. Dann müssen die Menschen nicht mehr zwingend in den Wald gehen, um Erholung zu finden. Umgekehrt, wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir tatsächlich bald an unsere Grenzen stossen, sei es beim Verkehr, der Flächennutzung oder eben sogar in den Naherholungsgebieten.
„Bürgerinnen sollten sich mehr einbringen und Fragen stellen“
Wir bräuchten auf jeden Fall mutigere Politikerinnen und -politiker sowie Raumplanerinnen und Raumplaner, die das Raumplanungsgesetz konsequent umsetzen. Leider stelle ich fest, dass sie oftmals gerne würden, aber dann zurückkrebsen oder dann ist ihnen das Thema Raumplanung und Bau- und Zonenordnung zu komplex. Bis man den Durchblick hat, muss man einige Arbeit investieren. Bürgerinnen und Bürger können und sollten sich mehr einbringen bei den Mitwirkungsverfahren und Fragen stellen. Wurden die öffentlichen Interessen abgewogen? Die Auswirkungen der Planung ermittelt? Und wurden die Gesetze und insbesondere das Raumplanungsgesetz vollständig berücksichtigt?
„Gerade in den Städten müssten Mieterinnen und Mieter immer ein Interesse an zusätzlichen Wohnungen haben“
Wenn mehr Beteiligte nachfragen, dann kommen hoffentlich auch die Antworten. Gerade in den Städten müssten Mieterinnen und Mieter immer ein Interesse an mehr Wohnungen haben Dann kann weniger Gentrifizierung stattfinden. Und die Leute finden wieder eine Wohnung, wenn ein Gebäude abgerissen oder grundsaniert und aufgestockt wird. Und zwar möglichst ohne, dass sich die Miete gleich verdoppelt. Die Leute sind aber verunsichert und haben zurecht Angst, dass sie aus dem Quartier verdrängt werden. Dabei liegt die Ursache gar nicht bei den Neubauten, sondern dass netto kaum zusätzliche Wohnungen entstehen, wenn neu gebaut wird. Stattdessen gewinnen dann viele die Ansicht, wir müssten die Grenzen dicht machen, weil wir keinen Platz mehr haben.
„Wenn wir konsequenter verdichten würden, dann könnten wir ein Bevölkerungswachstum klima- und umweltverträglich gestalten“
Nein, das wird zwar gerne so interpretiert. Aber bei unserer Forschungsarbeit haben wir geschaut, wie sehr die Schweiz wächst und wie wir den Mehrbedarf an Wohn- und Arbeitsfläche ressourcenschonend, also eben klima- und bodenschonend organisieren können. Das Wachstum beträgt ein Prozent pro Jahr. Das haben wir auf 100 Jahre hochgerechnet, also eine langfristige Perspektive eingenommen. Wenn wir konsequenter verdichten würden – und im Sinne der 10-Minuten-Nachbarschaft –, dann könnten wir ein Bevölkerungswachstum, wie wir es bisher haben, klima- und umweltverträglich gestalten.
Zur Person
Sibylle Wälty ist Architektin, Immobilienökonomin und Raumentwicklungs-Wissenschaftlerin. Seit 2016 forscht sie am ETH Wohnforum und doziert an der ETH Zürich, wo sie zu urbanen Transformationen und 10-Minuten-Nachbarschaften lehrt. 2022 hat sie das Start-up Resilientsy mitgegründet und berät die Immobilienbranche und Behörden in raumbezogenen Entwicklungs- und Rechtsfragen. Demnächst erscheint ihr Buch «Haushälterische Bodennutzung vollziehen» – eine umfassende Studie zum klimapositiven Umgang mit dem Boden der Schweiz.
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