Die Historikerin Elisabeth Joris übt scharfe Kritik am Vorgehen der Rechtskommissionen des Ständerats und des Nationalrats. Bild: Bernard van Dierendonck
Elisabeth Joris: Für mich ist es ein Skandal. Weil die Schweiz in die Europäischen Menschenrechtskonvention vertraglich eingebunden ist. Dies zu ignorieren ist nicht akzeptabel. Dass eine Institution wie eine Kommission des Ständerats – und zuletzt auch die des Nationalrats – das tut, ist für mich unverständlich. Die können nicht einfach sagen: Das ist ein arroganter Entscheid aus Strassburg. Hier geht es nicht um Gefühle. Es geht um Institutionen und Verträge, die es einzuhalten gilt. Ebenso verwunderlich ist, dass mit Daniel Jositsch ein Sozialdemokrat diese Meinung in dieser Kommission vertritt. Denn die Sozialdemokratie hat unsere Meinung ja immer unterstützt und begrüsste das Urteil des EGMR.
Vielleicht war es von ihm auch eine Retourkutsche an die Frauen. Denn es ist ja ein Urteil, das von Frauen angestrebt wurde. Und ohne Frauen wäre Jositsch heute Bundesrat. Genau weiss ich es nicht, was ihn zu dieser Meinung bewogen hat. Vielleicht ist es ja tatsächlich seine Überzeugung. Er darf meinen und fühlen, was er will. Was nicht geht ist das Ignorieren der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und die hat die Schweiz 1974 unterschrieben. Und da möchte ich etwas einfügen…
Ich bin 78 Jahre alt. Ich wurde erwachsen ohne Frauenstimmrecht. Und die Schweiz wollte die EMRK 1968 ohne Frauenstimmrecht unterzeichnen. Hätten die Frauen nicht protestiert und wären auf die Strasse gegangen – kulminierend in einem grossen «Marsch uf Bern» im März 1969 – hätten wir 1971 noch immer kein Frauenstimmrecht gehabt. Und die Unterzeichnung der EMRK wäre nicht möglich gewesen. Der Handlungsbedarf fürs Frauenstimmrecht war deshalb gross. Die EMRK hat für die Frauen deshalb eine grosse Relevanz.
Das sagen sie einfach. Im Urteil steht ja genau, dass dies nicht erfüllt ist.
Klimaseniorin Joris: „Bundesrat Rösti hätte gleich die aktuelle Abstimmung zum Stromgesetz nochmal ins Zentrum rücken können. Wo ihn die eigene Partei ja bekämpft“
Bundesrat Beat Jans hat das Urteil ja als «Chance» bezeichnet. Auch Rösti könnte ja sagen, «ja, die Massnahmen sind noch ungenügend aber wir sind dran, gerade jetzt mit dem Stromgesetz». So hätte er gleich die aktuelle Abstimmung nochmal ins Zentrum rücken können. Wo ihn die eigene Partei ja bekämpft.
Elisabeth Joris ist bekannt als Historikerin und Feministin – doch auch in der Anti-AKW-Bewegung und im Klimaschutz war sie früh engagiert. Bild: Bernard van Dierendonck
Das ist eine Grundsatzdebatte: Darf man eine Frage über Gerichte politisieren? Ist ein Volksmehr oder die Grundrechte entscheidend? Die Klimafrage ist entscheidend für die Zukunft unseres Lebens. Und hat Auswirkungen auf unser Privatleben. Darum ist es klar, dass wir klagen dürfen. In der Begründung geht es zwar um das Leben von Frauen über 65 Jahren – aber es ist ein Grundsatzentscheid, inwiefern der Klimawandel das Leben der Menschen generell bedroht.
„Mir hat es den Atem abgeschnitten, als ich gesehen habe, dass sich Alt-Bundesrichterin Pfiffner so kritisch äusserte“
Diesen Fragestellungen gingen wir ja auch nach. Wir hatten ja neben dem Verein auch Einzelklägerinnen, deren Leben beeinträchtigt ist. Das Gericht hat die Klage seriös und präzise abgehandelt. Und hat es immer zurückgeführt auf die eingegangenen Verpflichtungen der Schweiz. Ich kenne Brigitte Pfiffner seit langem. Ihre Kinder sind gleich alt wie meine. Mir hat es schier den Atem abgeschnitten als ich sah, dass sie sich in den Medien so kritisch äusserte. Es überraschte mich sehr. Ich habe auch mit dem ehemaligen Bundesrichter Raselli geredet. Er taxiert die Begründung der Ständeratskommission als Skandal.
„In allen Bereichen, wo die Menschenwürde oder das Recht auf Leben tangiert sind, ist ein Volksentscheid halt anfechtbar“
Wir können uns zwar diese Frage stellen, aber man kann die Instanzen nicht infrage stellen. Das Bundesgericht in der Schweiz ist ja auch Bundesverfassungsgericht, wenn es um kantonale Fragen geht. Da kann ich jederzeit klagen. Es ist also selbstverständlich, dass diese Klagen legitim sind. In allen Bereichen, wo die Menschenwürde oder das Recht auf Leben tangiert sind, ist ein Volksentscheid halt anfechtbar.
„Was die Kommissionen sagen, ist aber nicht akzeptabel. Die Weigerung einer Aushandlung ist unmöglich. Schliesslich ist man diesen Vertrag ja auch eingegangen“
Ich bin ein relativ emotionaler Mensch, aber auch sehr analytisch. Vom Verdikt des Gerichts war ich selber erstaunt in dieser Klarheit. Aber ich dachte auch: Jetzt geht’s los. Deswegen bin ich überhaupt nicht überrascht, dass es Diskussionen gibt. Nur über die Tatsache, dass die beiden Rechskommissionen sagen, man solle das Urteil komplett ignorieren. Ich stellte mich auf eine politische Auseinandersetzung ein. Und ich nahm an, dass Forderungen nach Austritt aus der EMRK und dem Europarat kommen. Als Historikerin hat mich das nicht überrascht. Was die Kommissionen sagen, ist aber nicht akzeptabel. Ich orientiere mich sehr stark an der Menschenwürde und das Einhalten von Regelungen. Die Weigerung einer Aushandlung ist unmöglich. Schliesslich ist man diesen Vertrag ja auch eingegangen.
Wir werden uns wehren. Wir müssen es – wie bei Ihnen – in die Medien und ins Gespräch bringen. Und wir müssten es in Kundgebungen auf die Strasse bringen, damit der öffentliche Druck gross bleibt, mehr zu tun. So, wie es das Urteil aus Strassburg besagt.
„Wir waren mit unserer Idee eine der ersten Bewegungen in Bezug auf den Klimawandel – noch lange vor der Klimajugend und Greta Thunberg“
Der Anfang der Klimaklage fällt in die Jahre, als man in der breiten Öffentlichkeit erst richtig vom Phänomen Klimawandel Kenntnis nahm. Greenpeace war hier zuvorderst involviert – das ist ja auch ihr Kerngeschäft. Aber ich war ja früher auch in der Anti-AKW-Bewegung. Die Ökologie war also immer ein wichtiges Thema für mich. Es geht immer um die Generationen-Frage. Bei der Kernenergie gibt es bis jetzt keine Lösung für die radioaktiven Abfälle. Und wie gefährlich ein AKW sein kann, sehen wir jetzt in Saporischschja.
Elisabeth Joris im Gespräch mit Christian Bürge, Chefredaktor von Go Green. Bild: Bernard van Dierendonck
Exakt. Für mich sind das Fragen der Verantwortung für die Zukunft. Wir waren mit unserer Idee eine der ersten Bewegungen in Bezug auf den Klimawandel – noch lange vor der Klimajugend und Greta Thunberg. Das war vor acht Jahren. Ich habe die Bewegung hier in der deutschen Schweiz angestossen, habe Medienarbeit geleistet. Das Gesicht der Bewegung wollte ich nie werden, blieb aber immer engagiert. Meine Enkelkinder und der Verantwortungssinn für künftige Generationen haben das noch verstärkt. Aber die Erwärmungssituation beschäftigt mich schon viel länger. Seit ich 25 oder 30 Jahre alt war.
Da muss ich etwas ausholen. Ich sah aus dem Schlafzimmer immer auf die Mischabelgruppe. Und aus dem Küchenfenster aufs Bietschhorn. Im Zug in die Schule sah ich immer das Bortelhorn. Und generell waren wir eine wanderbegeisterte Familie. Es gab eine grosse Identifikationsebene mit der Bergwelt. Der Stolz war der Aletschgletscher. Aber ich sah dann mit den Jahren auf meinen Zugfahrten immer mehr, wie sich die Schneemassen auf den Bergspitzen zurückzogen. Gerade, wenn ich durch den Lötschberg zurück ins Wallis fuhr und aufs Bortelhorn schaute. Auch das Wandern rund um den Aletschgletscher bewegte uns. Denn wir nahmen wahr, wie stark sich der Gletscher zurückzog. Das war hochemotional. Aber das Wort Klimawandel kannten wir damals noch nicht.
Das ist auch heute im Wallis so. Erst wenn gewisse Lifte in tieferen Lagen nicht mehr in Betrieb sind sehen sie, dass sich etwas ändert. Aber das betrifft das Wallis wegen der Höhenlage der Lifte etwas weniger als andere Regionen.
„Dass die Klimabewegung zwischendurch abflacht ist normal. Ich kann nicht 30 Jahre lang empört sein“
Die sozialen Bewegungen haben eine rationale und eine emotionale Ebene. Und die Empörung ist ein Teil davon. Die hält aber nicht ewig an. Ich kann nicht 30 Jahre lang empört sein. Und dies auf sieben verschiedenen Ebenen – weil ich ja auch noch AKW-Gegnerin und Feministin und so weiter bin. Darum flacht eine Bewegung zwischendurch ab. Auch die 68er-Bewegung wurde Ende der Siebziger totgesagt. Und Knall auf Fall gab es Anfang der Achtziger die Opernhauskrawalle – und die Jugendbewegung war wieder da. Bis sie wieder abflaute. Das ist normal.
„Dass wir als reicher Staat einfach die Probleme auslagern – wie mit den Kompensationen – ist eine perverse Idee. Und ein Lügenkonstrukt“
Da wir einen grossen Wohlstand haben, gibt es auch einen unglaublichen Verschleiss an Ressourcen. Wir sind ein hochentwickeltes Land, das vorangehen sollte im Klimaschutz. Aber das tun wir derzeit nicht. Es heisst immer, der Wohlstand solle nicht gefährdet werden durch den Klimaschutz. Das ist absurd. Unsere Wirtschaft kann sehr wohl wachsen. Aber wir müssen in Technologien investieren, die zukunftsträchtig sind und nicht so weitermachen wie bisher. Dass wir als reicher Staat einfach die Probleme auslagern – wie mit den Kompensationen – ist eine perverse Idee. Und ein Lügenkonstrukt. Wir müssen das als Chance verstehen. Denn wir haben die Kraft dazu. Nicht in der Massenproduktion, aber in der Innovation.
Die Eil-Petition von Greenpeace ans Parlament
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