Marcel Hänggi über die Kosten des Klimaschutzgesetzes: „Wir müssen zwar Geld investieren, aber am Schluss bringt es einen wirtschaftlichen Vorteil.“ Bild: Anita Affentranger
Marcel Hänggi: Ja, bei Volksinitiativen schrumpfen die Ja-Werte bis kurz vor der Abstimmung. Bei einem Gesetz ist das nicht so klar. Die SVP ist sehr in der Defensive und das merkt man. Sie reagiert darauf, in dem sie so masslos übertreibt, dass ich das Gefühl habe, die meisten Leute erkennen es. Aber wir haben noch nicht gewonnen. Gewonnen oder verloren haben wir am 18. Juni.
Marcel Hänggi: Ich beobachte die Politik schon lange und bin jetzt aber zum ersten Mal selber daran beteiligt. Die Unverfrorenheit der SVP-Leute finde ich sehr heftig.
Marcel Hänggi: Ich habe ihr Argumentarium genau gelesen. Ein 30-seitiges Dokument mit vielen Fussnoten. Auf den ersten Blick sehr sauber erstellt. Die SVP gibt an, woher sie ihre Zahlen hat. Aber wer ihre Fussnoten anklickt, sieht häufig, dass die Quellen das genaue Gegenteil aussagen. Oder dass das Argumentarium die Zahl zwar korrekt nennt, sie aber vollkommen falsch interpretiert und aus dem Zusammenhang reisst.
„Das Klimaschutzgesetz bedeutet Investitionen. Man gibt Geld aus, um etwas daran zu verdienen“
Marcel Hänggi: Das prominenteste Beispiel: Sie sagen, dass die Energiewende 387 Milliarden Franken kostet. Die Zahl stammt aus einer Studie der Bankiervereinigung. Aber die Studie beziffert nicht die Kosten der Energiewende, sondern den Investitionsbedarf. Investition bedeutet, man gibt Geld aus, um etwas daran zu verdienen. Und das hat die Bankenvereinigung auch gesagt und untersucht. Die Studie sagt: Wir können das finanzieren. Und wir können damit Geld verdienen. Das ist das Gegenteil von Kosten. Vor allem sind das Investitionen, die zum allergrössten Teil in die schweizerische Wirtschaft fliessen werden.
„Aller Voraussicht nach bringt die Energiewende am Schluss einen wirtschaftlichen Vorteil“
Marcel Hänggi: Ja, aber die SVP behauptet es sei etwas anderes, als es ist. Die SVP versucht die ganze Diskussion auf diese Kosten zu lenken. In Wirklichkeit wird es nicht nur nicht so teuer, sondern aller Voraussicht nach bringt die Energiewende am Schluss einen wirtschaftlichen Vorteil. Wir müssen zwar Geld investieren, aber das wird in unsere Wirtschaft investiert. Und wir sparen mehr, als wir investieren. Das zeigen beispielsweise Studien des Energy Science Center der ETH Zürich oder des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen. Denn heute haben wir effektiv Kosten, um fossile Energien wie Erdöl, Erdgas zu kaufen. Dann ist das Geld am Schluss nicht mehr in der Schweiz, sondern im Ausland. Das sind wirkliche Kosten. Und die sind ziemlich genau so hoch wie die von der SVP behaupteten Kosten der Energiewende.
Wie wirst du bei der Abstimmung zum Klimaschutzgesetz am 18. Juni abstimmen?
Marcel Hänggi: Das Tempo ist nicht absurd. Es ist hoch, und es ist eine Herausforderung. Das streitet auch niemand ab. Aber diese Herausforderung bedeutet: es gibt zu tun. Es gibt etwas zu tun für das Schweizer Gewerbe und die Schweizer Wirtschaft. Wenn wir von der Digitalisierung reden, dann sagen die Stimmen aus der Wirtschaft immer, das ist eine Herausforderung, die man packen muss. Aber wenn es um die Dekarbonisierung geht, dann tut man so, als sei es eine Gefahr. Ich sehe da keinen grundsätzlichen Unterschied. Beides sind grosse Herausforderungen. Und die Wirtschaft lebt davon, dass sie Herausforderungen anpackt.
„Der Mehrbedarf durch die Dekarbonisierung liegt gemäss diversen Schätzungen bei 25-40 Prozent“
Solarpanels am Muttsee-Staudamm im Glarnerland: Das Potential ungenutzter Flächen für Photovoltaik ist riesig. Bild: istock.com
Marcel Hänggi: Der Mehrbedarf durch die Dekarbonisierung liegt gemäss diversen Schätzungen bei 25-40 Prozent. Und wenn wir noch den Atomausstieg dazurechnen, dann sind es etwa 75 Prozent mehr. Es ist also keine Verdoppelung und nicht „viel, viel, viel mehr“, wie es der SVP-Kampagnenleiter Michael Graber ausgedrückt hat. Gleichzeitig sparen wir aber insgesamt viel Energie! Das liegt daran, dass wir die 60 Prozent fossiler Energien und 12 Prozent Uran nicht 1:1 ersetzen müssen. Denn sowohl die AKW als auch die Verbrennung von Erdöl, Kohle oder Gas sind thermische Anwendungen. Thermische Anwendungen sind aus physikalischen Gründen immer ineffizient.
„Ein Verbrennungsmotor produziert in erster Linie Wärme, ein Elektromotor Bewegung. Er ist viel effizienter“
Marcel Hänggi: Ein Verbrennungsmotor produziert in erster Linie Wärme und in zweiter Linie Bewegung. Ein Elektromotor produziert in erster Linie Bewegung und ist etwa vier Mal effizienter. Auch Wärmepumpen-Systeme brauchen drei- bis viermal weniger Energie, weil sie den Strom nicht brauchen, um Wärme zu produzieren, sondern um Wärme aus der Umgebung zu transportieren. Das heisst, wir müssen in Energieeinheiten gerechnet ein Drittel bis ein Viertel ersetzen. Und das können wir. Das zeigen viele Studien. Keine behauptet, dass es leicht wird. Aber sie zeigen, dass es geht.
Marcel Hänggi: Ach, Züttel. Ich habe mich über sein Interview sehr geärgert. Was Züttel erwähnt, nennt man Rebound. Das finde ich ein sehr wichtiges Thema; den Wikipedia-Eintrag zu Rebound habe ich ursprünglich geschrieben. Aber Herr Züttel hat es nicht verstanden. Erstens sagt er, dass Effizienzgewinne zu Mehrverbrauch führen. Rebound heisst aber, dass ein Teil der Effizienzgewinne weggefressen wird. Wenn man Licht effizienter machen will, dann nimmt man LED anstatt einer Glühbirne. Das spart Energie, also wird Licht günstiger. Und was günstiger ist, wird mehr nachgefragt. Ich lasse möglicherweise das Licht länger brennen. Das frisst einen Teil des Effizienzgewinns weg. In gewissen Fällen kann es einen 100-prozentigen Rebound geben. Man verbraucht trotz Effizienzgewinn am Ende genau gleich viel. Und der Reboundeffekt kann manchmal sogar mehr als 100 Prozent ausmachen. Das nennt man „Backfire“.
„Wenn eine Heizung vier Mal effizienter ist, werden wir nicht vier Mal mehr heizen“
Marcel Hänggi: Züttel behauptet, dass sei pauschal so. Das ist es aber Quatsch, gerade im Bereich der Heizungen, von dem Züttel im Interview spricht. Wenn du eine Heizung vier Mal effizienter machst, wirst du nicht plötzlich vier Mal mehr oder mehr als vier Mal mehr heizen. Denn Menschen fühlen sich bei einer bestimmten Temperatur wohl. Und nicht plötzlich bei 26 Grad, nur weil deine Heizung effizienter ist.
Marcel Hänggi: Ja genau, den Effekt gibt es. Ich kann als Beispiel das Haus nennen, in dem ich vorher gelebt habe. Der Hausbesitzer ersetzte die Fenster, was die Dämmung des Hauses massiv verbesserte. Ich war zuständig für die technischen Aspekte im Haus. Er sagte zu mir: „Stellen Sie bei der Heizung einfach alles auf das Maximum. Jetzt haben wir ja die guten Fenster, dann müssen wir nicht mehr sparen.“ Das ist genau ein Beispiel eines Rebound-Effektes. Erstens habe ich es dann nicht gemacht und zweitens hätte dies nicht den ganzen Gewinn weggefressen, sondern nur einen Teil.
„Wenn etwas teurer wird, dann sparen wir ja auch“
Marcel Hänggi: Ja. Nun sagt aber Züttel im gleichen Interview, dass Energie viel teurer wird. Wenn er nun Recht hat, dass Energie teurer wird, dann fällt der Rebound ja weg. Respektive es gibt einen Rebound in die andere Richtung. Also das heisst, wenn es teurer wird, sparen wir ja auch. Das berücksichtigt Züttel in seinen Berechnungen nicht.
Marcel Hänggi: Ein grosser Fehler vieler Energiestudien ist, dass sie von einem Szenario ausgehen, in welchem die Energienachfrage um so und so viel zunehmen wird. Aber die Energienachfrage ist auch immer eine Funktion des Angebots. Und das wird sowohl im Energiebereich, als auch im Verkehrsbereich meistens ignoriert. Letztlich sind es selbsterfüllende Prophezeiungen. Wenn du ein Szenario hast, welches besagt, dass wir 40 Prozent mehr Verkehr haben bis zu einem gewissen Zeitpunkt, und man baut die Strassenkapazitäten deshalb um 40 Prozent aus – dann wird der Verkehr tatsächlich zunehmen. Denn Strassen generieren Verkehr. Die Prophezeiung erfüllt sich selbst! Bei der Energie ist das ähnlich.
„Züttel Szenarien tun so, als gäbe es keinen Energiehandel, und wir müssten immer alle Energie selber produzieren.“
Marcel Hänggi: Das ist eine sehr interessante Aussage. Und hier liegt der Grund,, warum Züttels Studie zu so hohen Kosten kommt. Denn seine Szenarien tun so, als gäbe es keinen Energiehandel und wir müssten das ganze Jahr immer alle Energie selber produzieren. Sobald man aber mit Handel rechnet, müssen wir eben genau die letzten, teuren Prozente nicht mehr produzieren. Darum kommen Studien, die mit Stromhandel rechnen, zum Ergebnis, dass wir mehr Kosten sparen, als wir investieren müssen.
Marcel Hänggi: Er behauptet, wir könnten uns nicht darauf verlassen, dass die anderen Länder uns mit Strom versorgen und aushelfen. Aber es geht doch nicht um aushelfen, nett miteinander sein. Man nennt das Handel. Wir verlassen uns in anderen Bereichen ja auch darauf, dass wir importieren können. Wir importieren die meisten Rohstoffe, wir importieren Lebensmittel, Medikamente und so weiter. Und im Energiebereich verlassen wir uns bei Öl und Gas zu 100 Prozent auf Importe und zwar zum grössten Teil aus unzuverlässigen Ländern mit autoritären Regierungen wie Russland, Kasachstan, Libyen, Irak. Insgesamt importieren wir heute fast drei Viertel unseres Energiebedarfs. Wenn man jetzt sagt, beim Strom dürfen wir null Import haben, ist das merkwürdig.
„Tendenziell hat Europa bei erneuerbaren Energien Winter-Überschuss, die Schweiz Sommer-Überschuss. Es ergänzt sich“
Windenergie an der Nordsee: Deutschland produziert derzeit bereits 40 Prozent der erneuerbaren Energie durch Windkraftwerke. Bild: istock.com
Marcel Hänggi: In vielen Ländern in Europa ist nicht Photovoltaik, sondern Wind die wichtigste erneuerbare Energie – in Deutschland macht Wind 26 Prozent im gesamten Strommix aus. Und dank Wind produzieren sie im Winter mehr Strom als im Sommer. Also es ergänzt sich. Tendenziell hat Europa Winter-Überschuss und die Schweiz hat Sommer-Überschuss. Das war in den letzten Jahren bereits so.
Marcel Hänggi: Ja, aber die EU ist sehr stark daran, auszubauen.
Marcel Hänggi: Der Markt ist per Definition ein Mechanismus, um knappe Güter zu verteilen. Knappheit ist ökonomisch gesehen nichts Böses, sondern Knappheit gehört zur Ökonomie. „Knapp“ hört sich schlimm an, es hört sich nach Einschränkung an, aber es bedeutet einfach, dass etwas einen Preis hat. Mit zunehmender Knappheit steigt der Preis, in der Folge wird mehr gespart, weil es teuer ist, oder mehr produziert, weil es sich lohnt. Das ist ein Selbstregulierungs-Mechanismus.
„Mich erstaunt, dass viele Leute, die sonst sehr auf den freien Markt pochen, im Strom- oder Energiebereich null Vertrauen in den Markt haben“
Marcel Hänggi: Natürlich ist die Realität komplizierter als die Schulbuch-Theorie des Marktes. Mich erstaunt es aber schon, dass viele Leute, die sonst immer auf den freien Markt pochen, im Energiebereich null Vertrauen in den Markt zu haben scheinen. Tatsächlich funktioniert es nicht so schlecht: Deutschland hat im vergangenen Winter 30 Prozent Gas gespart, weil es knapp war. Der Markt hat offenbar gespielt.
Marcel Hänggi: Nein, denn wie gesagt: Wirtschaften heisst, mit Knappheiten umzugehen. Und das Potenzial ist enorm. Eine Studie des Bundesamtes für Energie besagt, dass wir einzig durch technische Massnahmen den Bedarf den Gesamtenergieverbrauch um 25 bis 40 Prozent verringern können. Noch nicht berücksichtigt ist das Sparpotenzial der Suffizienz – dass wir gewisse Dinge einfach nicht mehr tun.
„Pools im Garten, die den ganzen Winter beheizt werden: Was ist denn das für ein Wahnsinn?“
Marcel Hänggi: Es gibt vieles, was völlig nutzlos verpufft. Denken Sie an all die Läden, deren Türen den ganzen Winter offen stehen. Schaufenster, die mitten in der Nacht beleuchtet sind, wenn niemand vorbei geht. Kürzlich habe ich gelesen, dass ein Hersteller von Whirlpools davor warnte, man dürfe die Heizung dieser Pools im Winter nicht abstellen, weil es sonst Frostschäden geben könne. Pools im Garten, die den ganzen Winter beheizt werden: Was ist denn das für ein Wahnsinn?
Marcel Hänggi: Wenn wir anschauen, wieviel Prozent nur die winzige Schicht von Reichen am gesamten Energieverbrauch konsumiert – das ist gigantisch. Das ist ein Punkt, über den in der Schweiz fast nie gesprochen wird. Eine Studie von Oxfam hat gezeigt, dass ein Milliardär oder eine Milliardärin eine Million mal so viel Treibhausgase emittiert wie der globale Durchschnittsmensch.
„Daniel Vasella ist in zwei bis drei Jahren 150 Mal geflogen. Wir müssen in der Schweiz über Energiegerechtigkeit reden“
Marcel Hänggi: Ich kenne die exakten Zahlen nicht. Aber nehmen Sie die Geschichte von Daniel Vasella, dem Ex-CEO von Novartis. Er behauptete, er wohne in Monaco. Die Zuger Steuerbehörde widersprach ihm. Um ihm das nachzuweisen, haben sie ihm seine Stromrechnung, seine Wasserrechnung und so weiter präsentiert. Was er an Strom und Energie verbraucht, obwohl er angeblich gar nicht dort wohnt, ist gigantisch. Es hat auch geheissen, dass er in einem Zeitraum von 2-3 Jahren 150 Mal ab dem Flughafen Zürich, aber nur einmal ab dem Flughafen Nizza geflogen sei. Also in 2 bis 3 Jahren ist der Mensch 150 Mal geflogen. Das ist ein Punkt, über den in der Schweiz überhaupt noch nicht gesprochen wurde: Energiegerechtigkeit. Und da steht die Schweiz gar nicht gut da. Das Schlimmste, was man aus Klimasicht tun kann, sind Flüge im Privatjet. In keinem anderen Land gibt es, gemessen an der Bevölkerung, so viele Privatjets wie in der Schweiz.
„Der Speicherbedarf kann durch Stromhandel massiv reduziert werden. Darum brauchen wir ein Strom-Abkommen mit der EU“
Marcel Hänggi: Wie schon erwähnt kann der Speicherbedarf durch Stromhandel massiv reduziert werden. Das heisst, das Allerwichtigste, was die Schweiz machen müsste, ist ein Strom-Abkommen mit der EU. Es ist eine aussenpolitische Herausforderung, nicht eine energiepolitische. Und hier ist es ja gerade die SVP, welche dieses Problem so intensiv bewirtschaftet. Sie stemmt sich gegen eine Lösung.
„E-Autos können in einem Smart Grid Strom ans Netz abgeben, wenn das Auto nicht genutzt wird“
Marcel Hänggi: Ja, aber es gibt noch weitere Möglichkeiten, den Speicherbedarf zu senken, beispielsweise durch die so genannten SmartGrids, also intelligente Stromnetze. Es gibt ja Energieanwendungen, bei denen ist es nebensächlich, wann ich sie nutze. Beispielsweise kann ich am Abend meine Waschmaschine befüllen und am Morgen möchte ich sie gewaschen haben. Aber ob sie am Abend um 10 Uhr oder am Morgen um 2 Uhr wäscht, ist egal. Mit einem Smart Grid erkennt die Waschmaschine, wann wieviel Strom im Netz ist, weil zum Beispiel starker Wind weht und die Windräder viel produzieren. E-Autos können die Batterien dann laden, wenn viel Strom im Netz ist – und auch wieder Strom ans Netz abgeben, wenn Strom knapp ist und das Auto gerade nicht genutzt wird. So kann man kurzfristige Tagesschwankungen ausgleichen. Für die langfristige Speicherung wird wohl Power to X die wichtigste Technik sein, also die Produktion flüssiger oder gasförmiger Brennstoffe mit überschüssigem Strom, die wir dann wieder verbrennen können, wenn Strom knapp ist.
Mittels Smart Grid wird die Energie dann verteilt und benutzt, wenn sie am besten verfügbar ist. Bild: istock.com
Marcel Hänggi: Die 70 Prozent Verlust beziehen sich auf die elektrische Energie. Thermische Energieumwandlungen sind, wie schon erwähnt, ineffizient, weil dabei vor allem Wärme entsteht. Wenn wir aber die Abwärme nutzen, dann sind diese 70 Prozent eben nicht verloren; der Verlust ist also kleiner. Und auch wenn ein Verlust bleibt: Wenn wir dank Power to X die Produktionskapazitäten nicht auf den Jahres-Spitzenverbrauche ausrichten müssen, ist das unter dem Strich ökonomisch vorteilhaft.
«Dass wir viele neue Speicherseen brauchen sollten, das ist absurd“
Marcel Hänggi: Es gibt viele Studien der ETH Zürich, ZHAW, der Elektrizitätswirtschaft und so weiter, die zeigen: Es geht. Und es gibt diese eine Studie, an der Züttel beteiligt ist. Jene sagt: Es geht fast nicht. Züttel ist Materialwissenschaftler und kein Energiesystem-Spezialist. Ich bin es auch nicht und kann hier nicht mitreden. Ich bin Historiker. Aber wenn ich zehn Studien habe von Energiesystem-Spezialisten und eine von einem Materialwissenschaftler, die etwas anderes sagt und auf fragwürdigen Annahmen beruht, dann glaube ich den Energiesystem-Spezialisten.
Marcel Hänggi: Ja, aber dass wir viele neue Speicherseen brauchen sollten, ist absurd. Die Züttel-Studie schätzt auch das Potenzial von Photovoltaik viel zu pessimistisch ein. Und sie tut so, als gäbe es keine technischen Effizienzgewinne.
„Die grosse Gefahr ist, dass wir zuerst alle Erneuerbaren ausbauen und danach erst die Fossilen wegnehmen“
Marcel Hänggi: Ja, das ist richtig und wichtig. Die grosse Gefahr ist, dass wir sagen, wir bauen zuerst alle Erneuerbaren aus und danach können wir die Fossilen wegnehmen, weil wir sie ja dann nicht mehr brauchen. Aber wenn man die erneuerbaren Energien ausbaut, ohne die fossilen aktiv vom Markt zu nehmen, wird man am Ende eben beides verbrauchen – da spielt dann wieder der Markt. Darum ist es so wichtig, dass das Klimaschutz-Gesetz einen Absenkpfad vorgibt.
Marcel Hänggi: Ja. Aber das Gesetz definiert klare Ziele. Mein Vorschlag in der Gletscher-Initiative war ein Verbot. Das Gesetz kommt ohne Verbot aus, aber es sagt, dass die Ziele, soweit es technisch und wirtschaftlich möglich ist, durch Emissionsminderungen im Inland erreicht werden müssen. Im Bereich der fossilen Energie wissen wir, dass es technisch und wirtschaftlich möglich ist. Also kommt das einem klaren Bekenntnis zum Ausstieg aus der Nutzung der fossilen Energien gleich.
„Die Kompensationen halten nicht, was sie versprechen. Und bald wird es keine Länder mehr geben, die Emissionssenkungen verkaufen“
Marcel Hänggi: Die Kompensationen halten nicht, was sie versprechen. Aber selbst, wenn sie das täten: Indem wir Emissionsreduktionen im Ausland einkaufen, statt sie selber bei uns zu reduzieren, betreiben wir Strukturerhalt. Wir ersparen uns den Umbau des Energiesystems. Das wird uns auf die Füsse fallen. Denn weil alle Länder ihre Emissionen auf netto null senken müssen, wird es bald einmal kein Land mehr geben, das uns seine Emissionssenkungen verkauft. Und dann müssen wir unsere Emissionen umso schneller senken.
„Heute wird nicht mehr die Erwärmung geleugnet, sondern der Nutzen der Massnahmen infrage gestellt“
Marcel Hänggi: Tatsächlich haben viele die Dimension der Krise nicht verstanden. Dass etwa das Abschmelzen der Gletscher nicht einfach schade ist für die schönen Landschaften, sondern ganz existenziell für den Wasserhaushalt grosser Teile der Schweiz. Und wir haben eine aggressive Leugner-Szene, die ich im Abstimmungskampf wahrnehme. Die SVP gibt sich Mühe, nicht offen den Klimawandel zu leugnen, aber es gelingt ihnen nicht immer. Sie glauben nicht daran, sie nehmen es nicht zur Kenntnis. Wobei das Leugnen heute oft nicht mehr so geht, dass man die Erwärmung an sich leugnet, sondern, dass der Nutzen der Massnahmen infrage gestellt wird – und auf diesem Feld ist beispielsweise die NZZ sehr aktiv. Darum müssen wir jetzt politisch handeln. Das ist das, was wir mit diesem Gesetz wollen.
„Dass die Restaurants kein Fleisch mehr servieren dürften, das behaupten nicht einmal unsere Gegner“
Marcel Hänggi: Ich habe mich über diesen Titel sehr geärgert, denn er war wirklich nur auf Clickbait ausgelegt. Der Artikel zitierte Aussagen unserer Gegner, die befürchten, der Fleischkonsum müsste reduziert werden. Dass Restaurants kein Fleisch mehr servieren dürften, das behaupten nicht einmal unsere Gegner.
„Es geht beim Klimaschutz-Gesetz nicht um Fahrverbote. Aber Autos mit Verbrennungsmotor werden mittelfristig verschwinden“
Stau auf dem Zürcher Nordring: Mit dem Klimaschutz-Gesetz werden konkrete Reduktionsziele für die Emissionen des Autoverkehrs festgelegt. Bild: istock.com
Marcel Hänggi: Ja, das ist so eine rhetorische Figur der Gegner. Aber wer zwingt wem einen Lebensstil auf? Wenn beispielsweise über Fahrverbote für Autos die Rede ist, heisst es: Die Grünen wollen uns umerziehen! Aber ich habe meine Kinder umerziehen müssen, damit sie im öffentlichen Raum nicht von einem Auto überfahren werden. Allerdings geht es im Klimaschutz-Gesetz gar nicht um Fahrverbote. Autos mit Verbrennungsmotor werden aber mittelfristig verschwinden. Und was hat das mit Lebensstil zu tun? Beispielsweise, dass heute in der Schweiz jedes Jahr mehrere hundert Menschen vorzeitig an der von den Verbrenner-Autos verursachten Luftverschmutzung sterben.
Marcel Hänggi: Die EU, die USA, Indien und China machen ein Stück weit etwas Ähnliches wie wir es mit dem Klimaschutzgesetz auch machen wollen. Nämlich aktive Technologiepolitik und aktive Innovationspolitik. Das Problem ist halt, dass man die Substitute fördert und das, was man substituiert, nicht zurückbindet.
„Es ist noch immer ein riesiger Unterschied, ob wir zwei Drittel der Gletscher verlieren oder 95 Prozent“
Marcel Hänggi: Es geht um viel mehr als um Gletscher, aber die Gletscher sind ein Symbol. Und es ist das Symbol in der Schweiz. Wären wir jetzt in Holland gewesen, hätten wir sie vielleicht Küsten-Initiative genannt. Was Matthias Huss über die Gletscher sagt, ist leider richtig. Etwa zwei Drittel der Gletscher sind jetzt schon dem Untergang geweiht. Egal was passiert. Aber es ist immer noch ein riesiger Unterschied, ob wir zwei Drittel verlieren oder 95 Prozent.
Marcel Hänggi: Der wohl entscheidende Moment war, als ich damals mit Doris Leuthard redete. Ich fragte sie, ob die Schweiz denn bereit sei, die eigene Klimapolitik nach dem 1,5-Grad-Ziel auszurichten, für das sie sich in den Verhandlungen eingesetzt hatte. Sie antwortete: «Ach wissen Sie, wir wären froh, wären wir auf 2-Grad-Kurs. Zweitens kennen Sie ja unser Parlament. Und drittens: Glauben Sie, dass es die anderen Länder ernst meinen?»
„Ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas macht. Und wenn ich gewusst hätte, was auch mich zukommt, hätte ich es mir vermutlich auch nicht zugetraut“
Marcel Hänggi: Ich dachte: Das darf doch nicht sein, dass die Umweltministerin sagt: So ernst meinen wir es eben doch nicht mit der Rettung der Welt. Dann schrieb ich in einem Kommentar, dass wir in der Schweiz die Möglichkeit einer Volksinitiative haben. Wir können die Regierung dazu zwingen, das einzuhalten, was sie versprochen hat. In den Monaten nach Paris empfand ich es immer stärker so, dass ich keine Lust mehr hatte, zu schreiben, man müsse dies oder das tun. Ich wollte es selber tun, wollte die Regierung zwingen, etwas zu tun. Ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas macht. Und wenn ich gewusst hätte, was auch mich zukommt, hätte ich es mir vermutlich auch nicht zugetraut. Aber ich gewann Verbündete, wir gründeten einen Verein. Und die Dinge nahmen ihren Lauf.
Marcel Hänggi: Nur kühl analysieren kann man auch als Klimajournalist nicht. Ich weiss nicht, wie man einen IPCC-Bericht, der aufzeigt, wie schlecht es dem Planeten geht, distanziert sollte lesen können.
Marcel Hänggi: Das weiss ich dann am 18. Juni.
Schade, dass das neue Klimagesetz einen sehr grossen Faktor ausklammert: Die Ernährung und Landwirtschaft. Weltweit sind diese Bereiche die wichtigsten Klimagasproduzenten (insbesondere die Tierhaltung). Experten gehen sogar davon aus, dass das Klimaziel ohne Einbezug der Ernährung unmöglich erreicht werden kann. Und bei uns klammert die Politik das Thema vollständig aus…
wenn nicht jetzt Ja stimmen, wann dann….?!
Hänggi hat sowas von Recht. Respekt. Klimaschutz kostet vielleicht etwas. Kein Klimaschutz kostet noch viel mehr!