Faktencheck Erderwärmung: Das ist bereits besiegelt und das können wir ändern

5 Minuten
25. Oktober 2024

Wieviel Erwärmung ist eigentlich schon programmiert? ETH-Klimawissenschaftler Cyril Brunner sagt: die zukünftige Erwärmung wird nahezu vollständig durch unsere zukünftigen Emissionen bestimmt. Auch beim Thema Kippelemente rückt der Experte im Faktencheck falsche Vorstellungen gerade.

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Faktencheck Erderwaermung

Welchen Erde wir künftigen Generationen hinterlassen, liegt immer noch in unseren Händen, sagt die Wissenschaft.  Bild: istock.com

Manche befürchten, dass eine katastrophal heisse Erde durch unsere bisherigen Emissionen bereits besiegelt ist. Weil das Klimasystem träge sei und erst noch auf unsere Emissionen reagieren müsse. Und immer wieder höre ich von sehr gut informierten Personen, sogar Klimaforschenden, dass viel zusätzliche Erwärmung durch unser bisheriges Handeln noch im Klimasystem schlummert. Andere denken, dass wir Menschen zu unbedeutend sind und die heutige rasche globale Erwärmung sowieso nicht stoppen können. Was stimmt nun? Wie viel Erwärmung ist tatsächlich programmiert durch unsere bisherigen Handlungen? Und wo können wir heute noch einen grossen Unterschied bewirken? 

Um dies zu beantworten, gibt es drei Aspekte zu betrachten: Die zusätzliche Erwärmung im Klimasystem durch bisherige Emissionen, Kippelemente, und die Erwärmung, die wir mit unseren Investitionen, beziehungsweise mit unserer bisherigen Infrastruktur bereits festgelegt haben. 

Erwärmung verschwindet in den nächsten 1000 Jahren nicht

Eigentlich – zumindest beim CO2 – ist es recht simpel: Jede CO2-Emission wärmt faktisch gleich viel, egal wann und wo sie ausgestossen wird. Ausserdem wird die verursachte Erwärmung in den nächsten tausend Jahren nicht verschwinden. Das heisst, stossen wir jedes Jahr gleich viel CO2 aus, wird es jedes Jahr gleich viel wärmer. Das machen wir global seit 2015 ungefähr so. Stossen wir jedes Jahr mehr und mehr CO2 aus, also so wie wir es bis 2015 gemacht haben, wird es immer schneller wärmer.

CO2-Emissionen Grafik

Dies ist ein wesentlicher Unterschied, der häufig zu Missverständnissen führt. Während der Pandemie titelten viele Zeitungen beispielsweise, dass es eine Verschnaufpause fürs Klima gab, weil die globalen CO2-Emissionen um 6 Prozent zurückgingen. In der Realität ging es dem Klima jedoch nur weniger schnell schlechter als zuvor. Oder in Werbungen heisst es oft, etwas sei klimafreundlich, weil es 20 Prozent weniger CO2-Emissionen verursache. Richtig wäre, etwas als weniger klimaschädlich zu betiteln, weil es 20 Prozent weniger Emissionen verursacht. Wenn ich zu einer anderen Person nur noch 80, statt 100 Fluchwörter sage, bin ich ja auch nicht freundlich zu ihr. 

Wie beim Bankkonto: Einnahmen und Ausgaben müssen sich die Waage halten

Intuitiv tun wir uns also schwer, zu verstehen, wie CO2-Emissionen wirken. Die Konzepte sind aber ähnlich wie bei vielen anderen Bilanzen. Zum Beispiel beim Bankkonto, wo die CO2-Emissionen die Rolle von Ausgaben übernehmen. Je mehr wir mit dem Kontostand im Minus sind, desto heisser wird es auf der Welt. Daher können wir auch berechnen, wie viel wir ab heute insgesamt höchstens noch ausgeben dürften, bevor wir einen gewissen Kontostand überschreiten. Beim Klima nennen wir dies das verbleibende CO2-Budget. Was braucht es nun, damit der Kontostand des Bankkontos nicht mehr abnimmt? Genau: Einkommen und Ausgaben müssen sich die Waage halten. Netto-Null. So ist es gemäss heutigem Wissensstand auch beim Klima. Sobald wir insgesamt kein CO2 mehr ausstossen, gibt es keine zusätzliche Erwärmung durch CO2. Dazu gibt es eine ganze Forschungsrichtung, das „Zero Emissions Commitment“.

Nun ist es aber so, dass wir nicht nur CO2, sondern noch eine Fülle anderer Stoffe ausstossen, welche die Atmosphäre erwärmen oder abkühlen. Und es wird schnell komplex. Aber die Kernaussage ist robust: Um die zusätzliche Erwärmung zu stoppen, müssen die globalen CO2-Emissionen auf Netto-Null und die anderen Treibhausgasemissionen stark reduziert werden. Wollen wir irgendwann wieder, dass die globale Erwärmung zurückgeht, müssen unsere Emissionen „netto negativ“ werden. Dafür entfernen wir mehr CO2 aus der Atmosphäre, als wir noch ausstossen. Das sehen andere Staaten, aber auch das Klima- und Innovationsgesetz der Schweiz vor.

Zusätzliche Erwärmung durch Kippelemente

Alles zuvor beschriebene wäre schön und recht, gäbe es da nicht auch Kippelemente. Ein Kippelement ist ein System, in welchem ein kritischer Schwellenwert erreicht wird, ab dem eine oft unumkehrbare Veränderung eintritt. Beispielsweise ein Bergsturz, als Folge von tauendem Permafrost. Wir haben zwar eine gute Idee, welche Erdsysteme kippen können, aber wann Kippelemente aktiviert werden, ist unsicher. Schliesslich führen wir dieses grosse Experiment mit unserem Planeten gerade zum ersten Mal durch. Drei Dinge lassen sich dabei aber festhalten: Je mehr wir den Planeten erhitzen, desto wahrscheinlicher werden Kippelemente. Zweitens: Nicht alle Kippelemente wirken sich auf die globale Temperatur aus – bei manchen verlieren wir Ökosysteme oder bewohnbare Regionen.

Permafrost

Das gefrorene Flussdelta des Mackenzie Rivers im Nordwesten Kanadas – auch hier droht der Permafrost zu tauen.  Bild: istock.com

Kippelemente haben auch andere Effekte

Bei jenen Kippelementen, die einen Einfluss auf die globale Temperatur haben, können einige einen erwärmenden und andere einen kühlenden Effekt haben: Werden alle Kippelemente aktiviert, welche nach bester Schätzung bei 1,5 Grad aktiviert würden, käme es zu einer zusätzlichen Erwärmung von 0,3 Grad Celsius über die nächsten 300 bis 10’000 Jahre. Der dritte Punkt ist, dass Kippelemente zwar einen beträchtlichen Einfluss auf die globale Temperatur haben können, dieser Einfluss im Vergleich zur direkten Erwärmung unserer Emissionen aber viel weniger relevant sein dürfte. Konkret erzielten wir eine Erwärmung von 0,3 Grad Celsius in den vergangenen 12 Jahren. Wenn wir es also hinbekommen, unsere globalen Emissionen auf Netto-Null zu senken, sollten wir es auch hinbekommen, die mögliche Erwärmung aus Kippelementen abzuwenden. Nochmals zum Unterstreichen: diese Aussagen beziehen sich auf die Erwärmung, aber nicht auf andere Effekte von Kippelementen, die sehr weitreichend und verheerend sein können. Beispielsweise den unumkehrbaren Verlust von Ökosystemen oder Regionen.

Grafik Erwärmung

Worstcase-Szenario mit und ohne erwartete Kippelemente, wenn die globale Gesellschaft keine Anstrengungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen unternimmt. Die Analyse zeigt, dass eine zusätzliche Erwärmung durch Kippelemente zwar von Bedeutung für das Klima ist, aber die Gesamterwärmung viel mehr dadurch bestimmt wird, wie viel CO2 die Menschheit noch ausstossen wird, und wie gross die Klimasensitivität aller Treibhausgase ist. Quelle: Wang et al. (2023)

Grosser Faktor Infrastruktur

Auch wenn wir rein physikalisch die Erwärmung auf dem heutigen Niveau stoppen könnten, indem wir unsere CO2-Emissionen sofort auf Netto-Null senken würden, ist dies in der Realität quasi unmöglich, weil wir nicht von heute auf morgen all unsere bestehende, emissionsintensive Infrastruktur einfach abstellen können. Wird diese bestehende Infrastruktur ohne zusätzliche Vermeidungsmassnahmen bis an ihr Lebensende genutzt, entstehen CO2-Emissionen im Umfang von schätzungsweise 660 Milliarden Tonnen CO2. Weil jede Tonne CO2 gleich viel wärmt, lässt sich abschätzen, dass die globale Erwärmung durch diese Emissionen von heutigen 1,3 Grad Celsius auf 1,6 Grad ansteigen würde. Zudem ist heute nochmals viel neue, emissionsintensive Infrastruktur geplant. Bauen wir diese und nützen sie bis an ihr Lebensende, lassen die CO2-Emissionen die globale Erwärmung weiter auf 1,7 Grad ansteigen.

Verbrenner-Autos: Jedes ist eines zuviel

Alt-Bundesrätin Sommaruga sagte immer, die Schweiz habe ein ambitioniertes Klimaziel. Aus meiner Sicht wäre ein ambitioniertes Ziel eines, bei dem man nicht nur bei jeder neuen Investition darauf achten würde, dass man die emissionsarme Variante nimmt, sondern man würde auch bestehende, emissionsintensive Dinge (fossile Heizungen oder Autos mit Verbrennungsmotor) frühzeitig durch die emissionsarme Alternative ersetzen. Wollen wir unter 1,6 Grad bleiben, wäre dies nötig. Davon sind wir aber in unserem Handeln weit weg: Wir investieren immer noch sehr emissionsintensiv. Beispielsweise hatten in der Schweiz im Jahr 2023 noch immer rund 203’052 von 255’981 neu gekauften Autos einen Verbrennungsmotor. Für unsere Klimaziele sind das exakt 203’052 zu viele. 

Zusammenfassend gibt es nach heutigem Wissensstand keine weitere Erwärmung durch unsere bisherigen Emissionen. Das Klimasystem ist zwar träge, aber die Wärmeflüsse gleichen sich aus. Kippelemente sind unsicher, aber die beste Schätzung ist, dass es viel relevanter ist, wie wir uns ab jetzt verhalten. Denn die zukünftige Erwärmung wird nahezu vollständig durch unsere zukünftigen Emissionen bestimmt. Von denen sind einige programmiert durch die bereits gebaute Infrastruktur. Und täglich kommt neue Infrastruktur hinzu, die über Jahrzehnte weitere Emissionen verursachen wird. Daher ist es so wichtig, nun konsequent wo möglich emissionsarme Investitionen zu tätigen. Bei Heizungen, bei Fahrzeugen, bei neuen Anlagen und Bauten oder bei Unternehmensanteilen.

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Autor:in: Cyril
Brunner
Cyril Brunner ist Klimaforscher an der ETH Zürich und schreibt als Gastautor Beiträge für das Go Green Magazin.
iac.ethz.ch
Kommentare
  • Avatar-Foto Wolfgang from SOORT.eco:

    Super Beitrag Cyril! Vielen Dank.

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