Der See vor dem Rhonegletscher im Kanton Wallis wird jedes Jahr grösser – auch wird immer mehr Fels sichtbar. Ab Mitte Juni ist die Gletscherzunge komplett schneefrei. Bild: Matthias Huss
Matthias Huss: Die Schmelzraten bedeuten einen eindeutigen Rekord. Wir befürchteten dies schon zu Beginn des Jahres, da wenig Schnee lag. Mit den Hitzewellen im Sommer konkretisierte sich dies. Die Verluste waren so gross wie nie.
Im Mittel haben wir circa 3-4 Meter an Eisdicke verloren. Wenn wir das relativ ausdrücken zum verbleibenden Eisvolumen, dann sind es circa sechs Prozent. Das ist viel mehr als im bisherigen Rekordjahr 2003, als es nicht einmal vier Prozent waren. Im Mittel der vergangenen zehn Jahre, die alle sehr schlecht für die Gletscher waren, lagen wir bei zwei Prozent. Die sechs Prozent in diesem Jahr sind wirklich extrem. Bei keinem einzigen Messpunkt, auch beim höchsten, blieb Schnee aus dem Winter liegen.
„Das erste Mal in der hundertjährigen Geschichte der Messungen kam kein Schnee dazu“
Ja. Auch in Jahren, wo wir Verluste verzeichnen, gibt es zwar im unteren Teil eine Eisschmelze. Aber im obersten Teil kam zumindest ein wenig Schnee dazu. Das war dieses Jahr nicht der Fall. Das erste Mal in der über 100-jährigen Geschichte der Gletschermessungen.
Zum Gletscher zählt es eigentlich, sobald der Schnee auf das Eis gefallen ist. Normal wäre es, dass bis im September im oberen Teil des Gletschers Schnee liegen bleibt. Nach einem Jahr wird der Schnee dann nicht mehr als Eis bezeichnet, sondern als Firn. Dann dauert es nochmals 10-20 Jahre, bis dieser Firn zu Gletschereis wird.
Richtig. Nicht einmal in ganz grossen Höhen wie dem Jungfraujoch auf 3400 Metern. Und dort gibt es normalerweise sehr hohe Niederschlagsraten. Im Mittel kamen dort über die vergangenen hundert Jahre immer um die vier Meter Schnee dazu. Das heisst, im September fanden wir noch vier Meter aus dem vergangenen Winter vor. Dieses Jahr schmolz all dieser Schnee weg und dazu noch 1,5 Meter des Eises, das darunter lag. Und das auf dieser Höhe.
„Ein Gletscher kann nur überleben, wenn von oben etwas nachfliesst“
Auf der schneefreien Gletscherfläche des Plaine-Morte-Gletschers im Berner Oberland bohren die Forscher einen Messpegel nach. 2022 schmolz hier eine Eisschicht von bis zu 5 Metern Dicke ab. Damit der Gletscher im Gleichgewicht mit dem Klima wäre, müsste zu dieser Zeit noch rund 1 Meter Schnee aus dem Winter liegen. Bild: Matthias Huss
Ja. Wenn ein Gletscher unten verliert, kann er nur überleben, wenn von weiter oben etwas nachfliesst. Wenn wir dieses Jahr also noch hundertmal wiederholen, dann ist selbst vom Aletschgletscher nichts mehr übrig. Trotzdem hat es – gerade beim Aletschgletscher – noch viel Eis. Beim Konkordiaplatz sind es noch 800 Meter Dicke.
Einerseits relativ einfache Messungen wie den Rückzug der Gletscherzunge, andererseits die Massenbilanz. Die Massenbilanz bestimmt, wieviel Eis Jahr für Jahr verloren geht. Das ist der direkte Ausdruck des Klimawandels. Während die Gletscherzunge sich verzögert zurückzieht. Dort sehen wir die Reaktion bezüglich Klima über Jahrzehnte. Die Massenbilanz hingegen zeigt die sofortige Reaktion. Sie ist am relevantesten. Sie zeigt, wieviel Wasser verloren geht, wieviel die Eisdicke abnimmt.
„Drei Messreihen mussten wir aufgeben, weil schlicht kein Eis mehr vorhanden ist“
Da die Erhebung relativ aufwendig ist, können wir dies nur an 20 Gletschern ausführen – von 1400 Gletschern in der Schweiz. Wir haben auf den Gletschern diverse Messpegel – ins Eis eingebohrte Stangen – verteilt. Diese zeigen uns, wieviel im unteren Bereich verloren geht und im oberen Bereich dazukommt. Die 20 Gletscher sind verteilt über die ganze Schweiz, damit wir auch die regionalen Einflüsse sehen. Vom Aletschgletscher bis zu ganz kleinen Gletschern. Wobei wir dieses Jahr drei Messreihen – beim Corvatsch-Gletscher, beim Pizol-Gletscher und beim Schwarzbachfirn bei Andermatt – aufgeben mussten. Weil dort schlicht kein Eis mehr vorhanden ist.
In den Siebzigern und Achtzigern stiessen kleine Gletscher teils sogar etwas vor. Es war etwas kühler. Und die kleinen Gletscher reagieren dann schneller als die grossen.
Der Persgletscher in der Berninagruppe mit September-Neuschnee – die Gletscherspalten sind nach dem Hitzesommer aber weit offen. Bild: Matthias Huss
Das Entscheidende ist die Sommertemperatur. Denn die Wintertemperaturen sind dem Gletscher egal. Ob es jetzt auf 3000 Metern minus 10 oder minus 5 Grad kalt ist, spielt keine Rolle. Die Sommertemperaturen sind der wichtigste Faktor, danach kommt die Niederschlagsmenge. Viel Schnee ist gut. Aber er kann unmöglich einen warmen Sommer kompensieren. Das sahen wir 2018 und 2019 sehr schön. Damals hatten wir Ende Winter im April sehr viel Schnee. Dann kam ein heisser Sommer und so ging trotzdem viel Masse verloren. Diesmal kam beides zusammen. Ein sehr schlechter Winter und ein heisser Sommer. Diese Kombination war der Grund für den Rekord.
„Auf 3000 Metern verloren gewisse Gletscher das zwei- bis dreifache des bisherigen Maximums“
Bezüglich der Temperatur war es erschreckend, dass die Nullgradgrenze bis 5000 Meter anstieg. Das ist für die Gletscher natürlich sehr schlecht. Wir hatten vor allem bei sehr hoch gelegenen Gletschern riesige Verluste. Auf 3000 Metern verloren gewisse Gletscher das zwei- bis dreifache des bisherigen Maximums.
Das wird vor allem in den Gletscherskigebieten gemacht. Zum Beispiel am Corvatsch. Diese Gebiete wollen ihr Eis erhalten um ihre Pisten offen zu halten. Beim Corvatsch kämen Skifahrer ohne die Planen nicht mehr von der Bergstation runter. Darum werden sie ausgebracht. Die sind sehr effizient. Die Schmelze lässt sich dadurch lokal um über 50 Prozent reduzieren.
„Gletscher retten mit Planen? Das Geld würden wir besser in den Klimaschutz investieren“
Es ist entsprechend teuer und der Effekt ist nur lokal. Es ist nur im ökonomischen Interesse. Damit retten wir keine Gletscher. Die Schmelze wird nur an einer Stelle verlangsamt. Rein theoretisch könnten wir diese Planen auf dem gesamten Aletschgletscher ausbringen. Aber die Kosten und der Einfluss auf die Umwelt wären enorm. Würden wir alle Gletscher der Schweiz abdecken, würde das jedes Jahr eine bis zwei Milliarden Franken kosten. Die Bergwelt wäre verschandelt durch diesen Abfallhaufen. Die Blachen sind synthetisches Material, also Plastik. Wir sehen auf dem Rhonegletscher, dass diese Planen seit Jahren daliegen. Sie sind verloren in Gletscherspalten und fallen in den See, der vor dem Gletscher liegt. Alles geht die Rhone hinunter und bleibt im hydrologischen System. Das ist ungünstig für die gesamte Fauna und Flora. Wenn wir das im grossen Stil machen würden, wäre das sehr, sehr schädlich. Dieses Geld würden wir besser in den Klimaschutz investieren.
Wir haben die Wirkung berechnet, wenn wir die 1,5 Milliarden pro Jahr in den Klimaschutz investieren würden, in die Entwicklung von Technologien und die Kompensation der CO2-Emissionen. So könnten wir die gesamten Jahresemissionen der Schweiz kompensieren. Das würde viel mehr Sinn machen. Denn wir wollen ja nicht nur ein paar Gletscher retten, sondern das Klima so beeinflussen, damit die Menschheit diese Krise überstehen kann. Die Welt geht ohne Schweizer Gletscher nicht unter. Es geht darum, dass wir alles miteinander aufhalten. An die Entwicklungsländer denken.
„Die Gletscher sind das Heimatverständnis für viele Leute“
Ja. Das Interesse an diesem Thema ist riesig. Die Gletscher bringen es bildlich zum Ausdruck, was passiert. Sie sind vielen nah. Das ist ihr Heimatverständnis.
Der Findelgletscher östlich von Zermatt verliert viel Schmelzwasser. Bild: Matthias Huss
Zuerst: Kein Wissenschaftler behauptet, das Klima sei während Jahrmillionen stabil gewesen bevor der Mensch kam und sei erst dann entgleist. Das Klima ist sehr dynamisch und variabel. Das sehen wir an den Eiszeiten. Geologisch betrachtet leben wir in einem Eiszeitalter. Seit vier Millionen Jahren folgt eine Eiszeit auf die nächste. Momentan sind wir in einer Zwischeneiszeit. 20 000 Jahre nach der letzten Eiszeit, wo alles mit Eis bedeckt war. Die langfristigen Schwankungen sind natürlich. Was wir aber seit der Industrialisierung – und vor allem in den vergangenen 50 Jahren sehen – ist, dass der Einfluss des Menschen aufs Klima absolut Überhand gewinnt.
„Die gesamte aktuelle Erwärmung entstammt den menschlichen Aktivitäten der letzten Jahrzehnte“
Die fossilen Emissionen bestimmen die Klimaveränderung so massiv, dass die natürlichen Schwankungen übersteuert werden. Momentan kann praktisch die gesamte aktuelle Erwärmung den menschlichen Aktivitäten der letzten Jahrzehnte zugewiesen werden. Unser Einfluss ist schnell und massiv. Die Erwärmung des Klimas und das Schmelzen der Gletscher sind eindeutig darauf zurückzuführen.
Nein, es ist klar nachzuweisen, was die menschgemachten Veränderungen sind. Der Treibhauseffekt ist seit langem verstanden.
Ich glaube, das wurde überbewertet. Es ist nicht so, dass bei jeder Hitzewelle gleich alles den Berg runterkommt. Wir haben einfach mehr Situationen, die wir bisher nicht vorhergesehen haben. Gletscherabbrüche gab es schon immer. Grundsätzlich nimmt die Gefahr sogar ab, da wir weniger Eis haben. Es gibt aber neue Gefahrenstellen. Durch den Gletscherrückgang, durch das Auftauen des Permafrosts. Die Herausforderung besteht darin, diese neuen Situationen rechtzeitig zu erkennen, um dann Schutzmassnahmen ergreifen zu können.
„Im günstigsten Fall stabilisieren sich die Gletscher nach 2080“
Diese Rechnung können wir nicht einfach so in die Zukunft weiterziehen. Denn durchs Schmelzen ziehen sie sich ja zurück in grössere Höhen. Und die kleinen Gletscher sind besser dran als die grossen Gletscher, welche weniger gut klarkommen mit der Klimaerwärmung, weil sie viel zu schnell vorangeht. Darum verlieren sie auch soviel Eis. Im günstigsten Klimaszenario – die Welt ist klimaneutral bis 2050 – sehen wir eine Stabilisierung der Temperaturen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Das würde zu einer Stabilisierung der Gletscher führen. Irgendwann nach 2080. In diesem besten Fall könnten wir einen Drittel des Gletschervolumens retten. Mit weniger Klimaschutz verlieren wir mehr oder weniger alles.
Es ist nicht so, dass wir ohne Gletscher kein Wasser mehr haben. Die Gletscher sind eine Wasserquelle, wenn sie an Volumen verlieren, also schmelzen. Grundsätzlich ist der Gletscher aber an sich keine Wasserquelle, sondern ein Wasserspeicher. Das Wasser, das wir in den Alpen haben, kommt vom Niederschlag. Gletscher sind wichtig, da sie zur heissen und trockenen Jahreszeit Wasser freisetzen. In der kalten und feuchten Jahreszeit wird Wasser eingelagert. Das ist der wichtigste Verlust, den wir haben. Wenn wir die Gesamtabflussmengen aus den Alpen betrachten, sind sie primär von der Niederschlagsmenge abhängig. Und diese wird sich nicht gross verändern mit der Klimaveränderung.
„Die Schmelzraten waren eindrücklich, und es war bedrückend“
Sie könnten leicht zunehmen, ja. Aber das Wasser kommt halt zur falschen Zeit. Es fliesst dann ab, wenn wir’s nicht brauchen. In trockenen, heissen Sommern haben wir dann zu wenig. Darum ist die Kompensationsfunktion der Gletscher extrem wichtig.
Ja. Im Sommer 2022 haben wir gesehen, dass in Gebieten ohne Gletscher schon viele Flüsse fast austrockneten. Jene mit Gletscher hingegen hatten sehr viel Wasser. In Zukunft werden die Gletscher kleiner, es gibt kein Eis mehr, das schmelzen kann. Dann kann es auch dort zu Wasserknappheit kommen.
Beides. Die Schmelzraten waren schon sehr eindrücklich. Es war gleichzeitig auch bedrückend. Und es war etwas, das wir bisher nicht kannten. Das war ein ganz anderes Level.
„Wir Wissenschaftler müssen neutral sein, das ist ein schmaler Grat“
Der Wissenschaftler muss ja neutral sein. Seine Aussagen müssen auf Zahlen und Messungen basieren. Andererseits haben wir auch einen Auftrag. Die Erkenntnisse, die wir in der täglichen Arbeit sehen, zu vermitteln. Wir müssen mitteilen, woher es kommt und wie es abzuschwächen ist. Der Grat ist schmal, dass es nicht als Aktivismus rüberkommt. Aber wir müssen versuchen, zu sagen was wir sehen. Und dies in den richtigen Kontext stellen. Jeder soll sich dann selber einen Reim drauf machen und die richtigen Entscheide fällen. Bei der Gletscherinitiative war ich im wissenschaftlichen Beirat. Und natürlich habe ich mich als Privatperson gefreut, als der Gegenvorschlag durchkam. Als Wissenschaftler setze ich aber nur die Daten in den richtigen Kontext.
Das Eis in den Alpen ist im Vergleich zum Eis an den Polen sehr gering. Wir sehen auch in den Polarregionen einen extreme Beschleunigung. Sie erwärmen sich weltweit am schnellsten, da die Rückkoppelungseffekte stark sind. Wenn Schnee oder Meereis durch dunkles Wasser ausgetauscht wird. Momentan machen die Gletscher die Hälfte der gesamten weltweiten Eisschmelze aus, die andere Hälfte kommt von den Eisschildern an den Polkappen. Obwohl sie so gross sind, tragen sie momentan noch nicht soviel zum Meeresspiegel-Anstieg bei. In Zukunft wird sich das ändern. Der Beitrag der Gletscher wird weniger, weil die irgendwann kleiner oder ganz weg sind. Aber in Grönland und der Arktis zusammen haben wir ein unendliches Potential. Wenn diese Eisschilde ganz abschmelzen, würde der Meeresspiegel um über 60 Meter steigen. Das wird nicht in den nächsten 100 und auch nicht 1000 Jahren passieren. Aber das Potential ist endlos.
„Die wichtigste Motivation für den Klimaschutz ist es, das Schmelzen der polaren Eiskappen aufzuhalten“
Allerdings. Die wichtigste Motivation für den Klimaschutz ist es, das Schmelzen der polaren Eiskappen aufzuhalten. Denn wenn wir dort zu grossen Instabilitäten kommen und gewisse Kipppunkte überschreiten, dann stellt es alles auf den Kopf. Die ganzen Küstenregionen, die von Milliarden Menschen bewohnt sind, verschwinden dann. Und das betrifft auch uns. Wenn Milliarden Menschen in Bewegung sind und fliehen müssen, sind wir zwangsläufig involviert. Wenn wir unsere Alpengletscher verlieren, ist es traurig, aber nicht so schlimm wie wenn die Polarkappen schmelzen. Das hat die grösseren Konsequenzen. Das ist die grosse globale Aufgabe, die wir lösen müssen.
Matthias Huss ist Glaziologe an der ETH Zürich und der WSL Birmensdorf und Leiter des Schweizerischen Gletschermessnetzes GLAMOS.