Die Klimakrise führt er auf „zyklisches Verhalten“ zurück, das Umweltministerium würde er gerne abschaffen: Argentiniens designierter Präsident Javier Milei. Bild: Imago
Ein Mensch, der den Tod seines Hundes nicht ertragen kann und beschliesst, ihn gleich sechsfach zu klonen, der den Klimawandel leugnet, weil er „eine Erfindung des Sozialismus“ sei, der behauptet, dass ein Unternehmen, welches einen Fluss verschmutzt, dies unbesorgt tun kann, weil die Gesellschaft über genügend Wasser verfügt und es kostenlos ist – das ist Javier Milei. Ab dem 10. Dezember ist er der nächste Präsident Argentiniens.
Mit der Versicherung Gottes
Es ist sehr verlockend, über den Charakter von Milei zu schreiben, über seine bekannte emotionale Instabilität, seine geklonten Hunde in den Vereinigten Staaten, seine mystischen Anspielungen (er behauptet, dass Gott ihm im Jahr 2020 versicherte, dass er drei Jahre später Präsident sein wird), über seine Beziehung zu seiner Schwester Karina, die er „El Jefe“ (in männlicher Form) nennt und als Engel betrachtet.
Aber es wäre zu kurz gegriffen, eine beunruhigende – und sehr komplexe – Situation zu vereinfachen, und nur ein pikantes Portrait einer sehr charismatischen Persönlichkeit zu schreiben. Sein Triumph ist ein weiterer Vorstoss der radikalen Rechten in Lateinamerika, mit den bereits bekannten neoliberalen Ideen und Strategien. In diesem Fall mit ein paar Besonderheiten.
Der Stil von Javier Milei – Theatralik und konfrontative Rhetorik
Erstaunlich ist sein kometenhafter Aufstieg: Noch vor fünf Jahren war Milei ein Wirtschaftswissenschaftler, der durch die Fernsehstudios tingelte. Sein frontaler Stil, seine Frisur, seine Theatralik und seine konfrontative Rhetorik (insbesondere gegen „Scheiss-Linke“) brachten ihm Einschaltquoten in Fernsehsendungen und Klicks auf YouTube-Videos. Dies schlug sich in Wählerstimmen nieder, zunächst für den Gewinn eines Abgeordnetensitzes in der Stadt Buenos Aires im Jahr 2021, und nun kam der Triumph auf nationaler Ebene.
Milei ist überzeugt, dass das Privateigentum der höchste zu verteidigende Wert ist. Er bezeichnet sich selbst als Anarchokapitalist oder Liberal-Libertärer, als Anhänger der österreichischen Schule der Ökonomie, der Wissenschaft des freien Marktes. Für ihn gibt es kein Gemeinwohl, geschweige denn soziale Gerechtigkeit, die er als „Irrweg“ bezeichnet. Der Verkauf von Organen beispielsweise ist seiner Meinung nach nur ein weiterer Markt. Er behauptete, dass Menschen Waffen haben könnten, „wenn sie in Supermärkten verkauft würden“. Die argentinische Zentralbank – so sagte er – gehöre zerstört.
Der Staat „wie der Pädophile im Kindergarten“
Der Staat ist der grosse Feind – da unterscheidet er sich nicht von anderen Rechtspopulisten. Milei nennt ihn „die Grundlage für alle Probleme, die wir haben“. Er sei, wie er im Fernsehen sagte, „der Pädophile im Kindergarten“, eine Metapher, der er weitere nicht zitierbare Details hinzufügte. „Steuern sind Diebstahl“, definierte er weiter. „Die beste Politik ist, den Staat zu verkleinern.“
Der Name seiner Partei, der gleichzeitig ein Slogan ist, heisst „La Libertad Avanza“, die Freiheit schreitet voran. Die Wahl des Namens ist wohl durchdacht. Wer die Begriffe definiert, steuert die Debatte. Auf der Suche nach einer vermeintlichen individuellen Freiheit und mit korrupten Politikern als bevorzugter Zielscheibe schwor Milei seine Anhänger mit dem Ruf „Viva la Libertad, carajo! (Es lebe die Freiheit, verdammt!) ein. In diesem Jahr warf er in einem öffentlichen Akt eine Kettensäge an, um zu zeigen, dass er komme, um die Privilegien der, wie er es nannte, „Kaste“ zu beschneiden.
Die Anhänger von Javier Milei feiern den Wahlsieg. Die Kettensäge hatte der Kandidat während des Wahlkampfs in Auftritten angeworfen, um zu demonstrieren, wie er künftig „die Privilegien der Kaste“ beschneiden werde. Bild: Imago
Für Milei ist alles links, der Papst ein Sozialist
Die „Kaste“ ist nach seiner Definition die politische Aristokratie, die das Land viele Jahre lang regiert hat. Politiker der traditionellen argentinischen Parteien, vor allem derjenigen, die er als links bezeichnet, obwohl es sich technisch gesehen nicht um linke Parteien handelt. Für Milei sind viele Dinge links, auch der Papst, den er als Sozialisten bezeichnet.
Milei kritisiert Politiker, aber niemals Geschäftsleute. Für seinen Wahlsieg brauchte er die Hilfe eines sehr bekannten argentinischen Geschäftsmannes, Mauricio Macri, ebenfalls Politiker und von 2015 bis 2019 Präsident Argentiniens. Ausgerechnet, könnte man sagen. Bei früheren Gelegenheiten hatte Milei Macri als „Dieb, mittelmässigen Typen und Lügner“ bezeichnet. Und nun teilen sich Milei und Macri Entscheidungspositionen in der staatlichen Struktur. Nicht anders verhält es sich mit Patricia Bullrich, Macris Verbündete und Drittplatzierte bei den Parlamentswahlen. Sie unterstützte Milei offen, nachdem sie aus dem Wahlkampf ausgeschieden war und war massgeblich an der Niederlage des gewählten Präsidenten gegen den peronistischen Kandidaten Sergio Massa beteiligt.
In der neuen Regierung hat sich Bullrich bereits den Posten der Ministerin für innere Sicherheit einverleibt. Ein Amt, das sie zuvor innehatte, als die Sicherheitskräfte in Fälle von institutioneller Gewalt verwickelt waren, darunter der Ermordung von Santiago Maldonado und Rafael Nahuel, friedlichen Verteidigern der Sache der indigenen Mapuche in Südargentinien.
Eine schlechte Nachricht für die Natur und ein Gruselkabinett
Vor diesem Hintergrund ist die Regierung Milei – zusammen mit Macri – eine sehr schlechte Nachricht für die Verteidiger der Natur, die Hüter der kollektiven Gesundheit und der zunehmend verschmutzten Gebiete in einem Kontext von Klima-, Biodiversitäts-, Energie- und Materialkrisen. Und es ist zu erwarten, dass in den nächsten vier Jahren das Ausmass der Repression durch die Sicherheitskräfte zunehmen wird.
An Mileis Seite stehen nicht nur Liberale, sondern auch Konservative: eine Vizepräsidentin, Victoria Villarroel, eine Verwandte eines hohen Militärs und Leugnerin der letzten Militärdiktatur. Ein Chefjustiziar mit einer Vergangenheit als Nazi. Ein Wirtschaftsminister, der dazu beigetragen hat, Argentinien in das derzeitige Abkommen mit dem IWF zu treiben, und den Milei für seine Leistung bei den Verhandlungen mit dem Fonds kritisierte. Ein Kanzler, der die Homo-Ehe mit Kopfläusen verglich. Derselbe, der den Argentiniern empfohlen hat, „für diesen Sommer einen Stromgenerator zu kaufen, weil es nicht genug für alle gibt“. Ein Abgeordneter, der behauptet, dass das Problem des Aussterbens von Arten wie dem Wal oder dem Elefanten gelöst werden kann, indem man Eigentumsrechte an diesen Tieren überträgt. Es ist kaum in Worte zu fassen.
Argentinien leidet, Mileis faschistische Vorschläge verschrecken niemanden
Wie ist es möglich, dass Argentinien, ein Land, das ein Beispiel für Menschenrechte ist, an eine neue neoliberale Regierung unter dem Deckmantel des Libertarismus gefallen ist? Einige Schlüsse lassen sich zweifellos schon ziehen. Das Land ist seit Jahrzehnten nicht in der Lage, sich aus der strukturellen Armut zu befreien, welche die Diktatur hinterliess. Die vergangenen beiden Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur waren vielleicht die schlimmsten, die Argentinien je hatte. Heute weist Argentinien eine Armutsquote von 40 Prozent (56 Prozent bei Kindern) und 9 Prozent Bedürftige aus. In diesem Zusammenhang forderten viele Menschen Veränderungen und verachteten Massa, den scheidenden Wirtschaftsminister, auch wenn Milei seine neoliberalen Ideen zur Kürzung der Sozialausgaben oder die faschistischen Vorschläge seiner Mitarbeiter nicht verbarg.
Milei appellierte in der Krise an tiefe Emotionen wie Wut und den Wunsch nach Freiheit. Vor allem während der Pandemie, als strenge Haft für entsprechende Vergehen angeordnet wurde. Zusammen mit der Konstruktion innerer Feinde (Kaste, Linke, Politik, Peronismus, kultureller Marxismus) reichte dies bereits für einen Umschwung zu seinen Gunsten.
Es ist die Idee des sogenannt politischen Aussenseiters, der ankommt, um Probleme zu lösen, als wäre er ein Feuerwehrmann – eine Situation, die wir bereits mit Trump in den USA und vielen anderen Beispielen erlebt haben. Und sie ist eine Folge der Krise der traditionellen politischen Parteien.
Wilde Frisur, steile Thesen: Javier Milei zieht auf Tiktok Millionen in seinen Bann. Bild: Tiktok
Geschickter Schachzug auf Tiktok
Was Milei auch half war ein hervorragender Auftritt in den sozialen Netzwerken. Vor allem auf TikTok und YouTube schaffte er es, einer Gruppe junger Menschen, die immer in einer Wirtschaftskrise gelebt haben und keine Zukunft sehen, einen Sinn zu geben. Einige von Mileis Videos auf TikTok haben mehr als 6 Millionen Aufrufe.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Demobilisierung der Gesellschaft, die nicht neu ist, aber nach der Pandemie noch deutlicher wurde. Auch eine patriarchalische Reaktion auf die Eroberungen des Feminismus und der Diversität. Und schliesslich könnte man eine Sozialdemokratie oder einen Progressivismus anführen, die keine Antworten auf strukturelle Fragen geben, und eine Linke, die zumindest in Argentinien nicht als Wahloption wachsen kann.
Die radikale Rechte ist überall auf der Welt auf dem Vormarsch. Brasilien hatte Bolsonaro, Italien, Ungarn, Polen, vielleicht bald Holland und weitere Länder haben ihre faschistischen Präsidenten oder Premierminister. Auch Bolsonaros Sohn und die Führer von Vox aus Spanien haben sich in den letzten Monaten an Milei gewandt.
„Klimakrise? Nur da, um sozialistische Penner zu finanzieren“
Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem Umweltschutz? Milei hat sich nie für dieses Thema interessiert. Er hält es für eine Erfindung des Marxismus. Er behauptet, dass es die Klimakrise nicht gibt, dass sie auf ein zyklisches Verhalten der Temperaturen zurückzuführen ist. Und dass die Politik, die darauf abzielt, sie einzudämmen, nur dazu dient, „sozialistische Penner zu finanzieren, die Papiere schreiben“. Sein Vorschlag ist die Abschaffung des Umweltministeriums.
So sehr der Kandidat Massa die Formulierung von Milei kritisiert hat, auch wenn sich Präsident Alberto Fernández zur Reduzierung der Treibhausgase verpflichtet hat, so sehr hat die zu Ende gehende Regierung die Verschmutzung von Gemeingütern und die Ausbeutung fossiler Brennstoffe entgegen den wissenschaftlichen Erkenntnissen vertieft.
Die Zeichen stehen auf Sturm
Wer sich in Argentinien bewegt, der merkt, dass die Zeichen auf Sturm stehen. In der gynäkologischen Abteilung eines öffentlichen Krankenhauses in Buenos Aires tauchen Nazi-Graffiti auf, und das Ministerium für Frauen- und Geschlechterfragen steht vor dem Aus. In grossen Unternehmen beginnen Massenentlassungen. Für die wärmeren Monate wird eine Zunahme der Gewalt erwartet, und Macri hat bereits im Fernsehen gewarnt: „Die jungen Leute, die für Milei gestimmt haben, werden nicht zu Hause bleiben. Die Orks (Ungeheuer) werden sehr vorsichtig sein müssen, wenn sie auf den Strassen randalieren wollen“, sagte Macri mit Blick auf die bevorstehenden sozialen Proteste.
Übersetzt heisst das: Der ehemalige Präsident ermutigt zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen Menschen in Not und Mileis Wählerschar. Es bleiben nur noch wenige Tage, um das Leben in einem neuen, gewalttätigeren Argentinien zu beginnen.
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