Melanie Mettler: „Die Grünliberalen haben mittelfristig grosses Potential.“ Bild: zvg
Melanie Mettler: Mich beschäftigt, dass es anspruchsvoller wurde, mit nachhaltigen Themen durchzudringen. Vor vier Jahren gelang es, für eine nachhaltige Zukunft zu mobilisieren. In der Folge gewannen die grünen Parteien viele Sitze. Es ist abzusehen, dass nicht alle diese Sitze zu halten sind.
Paradoxerweise sind es auch die Erfolge in der Klimapolitik, die das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber anderen Themen weniger dringlich scheinen lassen. Krisen sind den vergangenen Jahren sehr erlebbar geworden. Die Pandemie, Krieg in Europa, die Versorgungsschwierigkeiten von Energie bis zu Medikamenten. Der Druck auf den Wohlstand steigt. Das merken die Leute in ihrem Alltag. Die Bevölkerung sucht Stabilität. Für viele ist aber der Gedanke immer noch neu, dass Nachhaltigkeit und Balance die Grundlage von Stabilität sind. Man denkt, es sei etwas, was eine ferne Zukunft beträfe.
„Es besteht die Gefahr, dass wir kippen zum ohnmächtigen Schluss ‚passen wir uns halt an'“
Es ist ja nicht so, dass unsere Wiesen im Sommer immer grün wären. Es ist eigentlich sehr erlebbar. Wir sehen es an den Hitzerekorden dieses Sommers und Herbsts, den Waldbränden, den Bergrutschen, am fehlenden Schnee in den Skiferien. Die Böden verlieren an Leben und Fruchtbarkeit, drei Viertel der Insekten sind verschwunden und inzwischen sind die Vogelbestände im Kulturland um mindestens einen Drittel zurückgegangen. Es herrscht eine gewisse Gefahr, dass wir von der Idee, «wir machen Vorsorgeleistungen für die Zukunft» direkt kippen zum ohnmächtigen «die Veränderung ist schon da, passen wir uns halt an». Es braucht die grünen Kräfte, damit uns in Zukunft nicht nur noch die Anpassung bleibt.
Welches Thema beschäftigt dich in diesem Herbst?
Die Idee, schnell viele PV-Anlagen zu bauen, ist gut, aber politischer Stillstand ist schlecht. Das nationale Parlament hat erstmals einer Pflicht zugestimmt, da gab es bisher ideologische Hürden. Und 300 Quadratmeter bebaubare Fläche sind noch schnell mal erreicht.
„Maximalforderungen führen in den Stillstand“
Das stimmt. Aber mich interessiert die Wirkung. Maximalforderungen führen in den Stillstand. Lösungen müssen von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden. Zur Einbettung: in den vergangenen zwei Jahren haben Private bereits zwei Terawattstunden zusätzliche Leistung in kleinen PV-Anlagen realisiert. Das Zubauziel von 20-40 TWh für die Energiewende bis 2050 ist also machbar.
Die Solarinitiative ist eine Projekt der Grünen Partei, in das die Grünliberalen nicht einbezogen wurden. Die nationale Parole zur Initiative ist aber noch nicht gefasst. Einige Kantonalsektionen unterstützen die Initiative bereits. Ich persönlich übrigens auch. Aber wir haben nun mal eine andere Rolle im politischen System als die Grüne Partei. Aktivistische Kräfte schlagen einen Pflock ein, sind aber nicht dafür verantwortlich, dass es danach auch passiert, sondern etablieren erst mal einen Handlungsbedarf. Die Grünliberale Partei hingegen fühlt sich verantwortlich dafür zu erarbeiten, welche Massnahmen am meisten und schnellsten Wirkung erzielen. Unsere Rolle ist es, jene zu überzeugen, welche noch nicht dieser Meinung sind. Das ist unser Selbstverständnis.
„Wir müssen nicht nur über Solarenergie reden, sondern über alle Aspekte der Energiewende“
Jedes Nein an der Urne wirft uns um Jahre zurück. Wir haben keine Zeit für Maximalforderungen, dafür finden sich hier und heute keine Mehrheiten. Für einige wichtige Richtungsentscheide haben wir den günstigsten Moment bereits verpasst. Es ist aber immer noch machbar, die Klimaziele zu erreichen. Aber es wird halt von Jahr zu Jahr teurer. Nicht nur an Geld, sondern an menschlichem Leid und Transformationsaufwand. Kommt dazu, dass wir bei der Energiewende nicht nur über die verfügbare Fläche für Solarenergie reden müssen, sondern über alle Aspekte der Energiewende.
Das Parlament hat generelle Solarpflicht, sondern nur eine für Neubauten mit einer Fläche von über 300 Quadratmetern beschlossen. Bild: istock.com
Absolut, das ist zentral für Stabilität und Versorgungssicherheit. Ein dritter Aspekt sind die Speichermöglichkeiten, auch mit Power-to-X. Und als Viertes müssen wir viel effizienter mit der Energie umgehen. Heute verpufft ein riesiger Anteil des produzierten Stroms ungenutzt.
„Solange wir 40 Prozent der Energie verpuffen lassen, müssen wir nicht über Atomenergie diskutieren“
Absolut. Gewisse Kreise versuchen eine Scheindiskussion anzuzetteln mit der Aussage: Es braucht Atomkraft, sonst kannst du deine Waschmaschine nicht mehr nutzen. Solange wir 40 Prozent der produzierten Energie ungenutzt verpuffen lassen, müssen wir sicher nicht über Atomkraft diskutieren.
Die Faktenlage ist klipp und klar. Es ist nicht nur machbar, dass wir unsere Klimaziele erreichen, es ist auch für alle positiv. Ökologisch, wirtschaftlich und sozial. Das ist auch einer der Gründe, weshalb in den letzten zwei Jahren plötzlich die Photovoltaik in der Schweiz von 1 TWh auf 3 TWh gestiegen ist, und zwar mit Zubauten auf kleinen Flächen von Privaten. Aber wie können wir dieses Bewusstsein noch breiter verankern? Wir müssen die verschiedenen Bevölkerungsgruppen dort abholen, wo sie sind, in ihrer Sprache, ihrer Ästhetik und ihrem Vokabular. Wenn jemand die 50. Initiative lanciert, dann ist das wie der Aktivismus von der Strasse. Aber wenn’s bei der Übersetzung fehlt, dann bewegen wir uns nicht. Dann werden nur Positionen proklamiert und wir treten auf der Stelle.
„Naturschutz oder Solarenergie? Es muss jedes Projekt einzeln angeschaut werden“
Es gibt viele gute Projekte. Zum Beispiel: oberhalb von Adelboden gibt es ein Projekt an einem Ort, der schon erschlossen ist und den gesamten Energieverbrauch von Adelboden abdecken könnte, inklusive Wintertourismus. Die Güterabwägung mit Naturschutz und Biodiversität wird sorgfältig für jedes Projekt einzeln durchgeführt. Kommt dazu, dass die PV-Anlagen auch wieder demontierbar sind.
Es gibt hier ja zwei Seiten. Was der Staat einerseits subventioniert und wie die Bevölkerung konsumiert. Die Bauern werden alle paar Jahre mit neuen Rahmenbedingungen konfrontiert, und sollen dann ihre Höfe jedes Mal umbauen um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Da verstehe ich den Unmut gegenüber der Landwirtschaftspolitik. Aktuell setzt die Landwirtschaftspolitik aber Anreize für eine Nahrungsmittelproduktion, welche Raubbau betreibt an den Wirtschaftsgrundlagen der Bauern, nämlich Luft, Wasser und Boden. Zudem ist sie nicht mit den Klimazielen vereinbar. Leider sind die Bauern im Parlament durch einen Verband vertreten, der die Augen vor der Realität verschliesst. Mit ihren starken Mehrheiten wären die Bauern in der komfortablen Lage, dass sie nachhaltig tragbare Produktionsmodelle gestalten könnten, die die Lebens- und Geschäftsgrundlagen künftiger Generationen von Bauern und Bäuerinnen erhalten würden.
„Wir werden heute zu einer Ernährung angeregt, von der wir wissen, dass sie nicht gesund und gleichzeitig nicht gut ist für die Umwelt“
Das ist genauso wenig sinnvoll wie die Subventionierung von Teilen der landwirtschaftlichen Produktion, die nachweislich das Wasser vergiftet. In der Landwirtschaftspolitik läuft tatsächlich einiges schief.
Wie ich mich ernähre hat schon mit dem Angebot zu tun. Weiter sind wir stark von Gewohnheiten und Kultur geprägt. Aber es ist wahr: Wir werden heute zu einer Ernährung angeregt, von der wir wissen, dass sie nicht gesund und gleichzeitig nicht gut ist für die Umwelt.
Zum Beispiel. Gerade wenn es um Gewohnheiten und Kultur geht, braucht es nebst Sensibilisierungskampagnen zum Umdenken die ganze Kette. Wenn wir die Detailhändler in die Pflicht nehmen beispielsweise, oder das Angebot in öffentlichen Kantinen entsprechend anpassen. Einer meiner ersten Vorstösse im Berner Stadtparlament war einst jener, dass wir die Köchinnen und Köche in städtischen Kantinen in einen Kurs für pflanzliche Menüs schicken sollten. Es geht ja nicht darum zu erzwingen, dass sich jemand vegan ernährt. Aber jene die kochen, sollten zumindest die Lust verspüren, auch pflanzliche Gerichte zu kochen die lecker, gesund und nachhaltig sind.
Deutlich weniger als der Durchschnitt. Uns ist wichtig, woher wir das Fleisch beziehen, am Liebsten mit persönlichem Bezug. Und ich bin heute neugierig und probiere all die vielen Fleischersatzprodukte. Oft landen schmackhafte pflanzliche Rezepte auf meinem Speiseplan.
Gesunde Luft, gesunde Böden, sauberes Wasser? Die aktuelle Landwirtschaftspolitik bewirkt jedenfalls das Gegenteil. Bild: istock.com
Wahrscheinlich gibt es nicht einfach DIE eine Lösung für eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion. Es muss in erster Linie auch gesund sein und den Leuten schmecken.
„Wenn ich den Bauernverbands-Präsidenten Markus Ritter reden höre und er vollen ernstes ins Ratsmikrofon sagt, die Schweiz hätte die gesündesten Böden, das sauberste Wasser und die reinste Luft, dann bleibt mir die Spucke weg“
Das Thema Biodiversität ist in der Schweiz leider noch nicht angekommen. Es ist wirklich tragisch. Und nicht nur punkto Schutzgebieten. Auch was die Bodenqualität betrifft oder die Wasserqualität. Wenn ich den Bauernverbands-Präsidenten Markus Ritter reden höre und er vollen ernstes ins Ratsmikrofon sagt, die Schweiz hätte die gesündesten Böden, das sauberste Wasser und die reinste Luft, dann bleibt mir die Spucke weg. Aber daran glauben grosse Teile der Bevölkerung. Dieses Bild vom Schweizer Garten Eden hält sich hartnäckig. Mir macht das Sorgen. Nicht nur punkto Bestäubungssituation. Wenn die Mikroorganismen im Boden nicht mehr intakt sind, haben wir ein Problem. Auf die Nahrungsmittelproduktion wird das massive Auswirkungen haben.
Die Kommunikation wird sicher auch übertönt von allen anderen Problemen, welche akut intensiver bewirtschaftet werden. Gerade im Wahlkampf versuchen Parteien ihre Kernthemen zu pushen, seien das Gesundheits- und Mietkosten, Altersvorsorge oder Migration. Dabei ist es ziemlich essentiell, wie viele Insekten wir nachts an einer Strassenlampe sehen. Bei den fliegenden Insekten reden wir von 70 Prozent Verlust der Biomasse. Klar, gibt es keine Vögel mehr, wenn sie so wenig zu essen finden.
„Ein Kapazitätsausbau im Strassenverkehr mündet innerhalb von 8 Jahren wieder in verstopften Strassen mit noch mehr Autos“
In manchen Themen ist die Faktenresistenz erstaunlich. Erstens weiss man, dass ein Kapazitätsausbau im Strassenverkehr innerhalb von 8 Jahren wieder in verstopften Strassen mit noch mehr Autos mündet. Zweitens ist der angebotsinduzierte Mobilitätskonsum pro Kopf immer noch steigend. Und zwar sowohl im Individualverkehr als auch im öffentlichen Verkehr. Raumplanerisch ist das aktuelle Mobilitätsverhalten in einem kleinräumigen Land wie der Schweiz sinnlos. Ist ein Umzug wirklich nicht zumutbar, wenn wir eine Stelle in einer anderen Stadt annehmen? Ist es wirklich nötig, dass die ganze Belegschaft täglich zur selben Zeit die Infrastruktur nutzt? Es wäre höchste Zeit, dass wir hier ein neues Verständnis entwickeln und die vielen neuen Erfahrungen, zum Beispiel mit digitalen Arbeitsinstrumenten, kreativ nutzen.
Die Umfragen prophezeien uns ein leichtes Minus, aber ich sehe mittelfristig grosses Potenzial. Die Grünliberalen sind bei den letzten nationalen Wahlen 2019 sprunghaft von einer 4,6-Prozent- zu einer 7,8-Prozent-Partei angewachsen. Ich bin überzeugt, dass wir inhaltlich ein stimmiges Programm haben und gute Lösungsangebote machen. Wir konnten Stabilität aufbauen, indem wir nun in allen Kantonen vertreten sind, mehr Mitglieder und breitere Strukturen haben. Keine andere Partei hat während der vergangenen Jahre mehr Parlamentsmitglieder in den Kantonen zugelegt. Dass die Grünliberale Partei nahe bei der Bevölkerung politisiert, zeigt sich auch darin, dass die Parolen der Grünliberalen am häufigsten mit den Abstimmungsergebnissen übereinstimmen.
Das haben wir kommuniziert: Sobald wir im Ständerat sind und einen 10-Prozent-Anteil zu verzeichnen haben.
Von mir aus sofort. Denn die SP und die FDP sind fast doppelt übervertreten. Ich sehe durchaus Konstellationen, dass die Grünen und die Grünliberalen bald in der Landesregierung vertreten sind.