Auch Schweine sterben viel zu jung und haben selbst in der Schweiz oft kaum Platz: Das Gesetz schreibt maximal 0,95 Quadratmeter Liegefläche vor.
Wenn gestresste Erwachsene auf der Suche nach der nächsten aufregenden Situation durch unseren Hof hasten, nähert sich ihnen plötzlich Mathilda und fängt ihren unruhigen Blick ein. In diesem Moment wird der Stress wie lästige Flusen von einem Staubsauger verschluckt, und die hektische Welt der Besuchenden erfährt eine Wende.
In Mathildas Blick liegt so viel Weisheit, dass es gar körperlich spürbar wird. Meistens setzen sich die ruhiger werdenden Menschen dann hin und Trute Mathilda gesellt sich zu ihnen. Sie gibt behutsam zu erkennen, dass sie auch nichts gegen eine Streicheleinheit einzuwenden hätte. Es ist der Moment, wo wir vom Hof uns ein wenig zurückziehen, um Mensch und Tier in einen stillen Dialog treten zu lassen.
Trute Mathilda – ganz viel Persönlichkeit
Bei Besuchen von Kindern zeigt Mathilda ihre kindliche Seite und bringt sich dort ein, wo eine Lücke zu sein scheint oder ein Kind besonders ungeduldig herumzappelt.
Die Freundschaften, welche die Kinder mit Mathilda schliessen, sind äusserst berührend. Immer wieder kommen sie zurück, um Zeit mit ihr zu verbringen. Auch die mitgebrachten Eltern, Bekannten und Verwandten sind von der Persönlichkeit dieser prächtigen Trute beeindruckt.
«Wir nehmen ihnen ihr Leben, lange bevor wir sie schlachten»
Die vor drei Jahren aus einem Schweizer Massentierhaltungsstall gerettete Mathilda darf ihr Leben endlich geniessen, soweit es der völlig überzüchtete Körper zulässt. Mit 20 Wochen wäre sie umgebracht worden, um ihren massiven Brustbereich als „mageres“ Fleisch auf dem Fitnessteller zu „verschenken“. Natürlich ist das semantischer Unsinn; kein Tier „gibt“ uns sein Körperteil, vielmehr nehmen wir es ihm gewaltsam.
Doch wir rauben den Tieren längst nicht nur ihren Körper. «Wir nehmen ihnen ihr Leben, lange bevor wir sie schlachten» sagte kürzlich ein Landwirt, der über den Weg der TransFARMation beschlossen hat, keine Tiere mehr auszubeuten. Zuvor hielt er 1500 Truten.
Haufenweise Massentierhaltung in der Schweiz
«Massentierhaltung beginnt dort, wo die Bedürfnisse der Tiere aufgrund der Gruppenzahl und für menschliche Zwecke übergangen werden.» Da ist dieses Wort, mit dem wir so grosse Mühe haben, weil es uns direkt vor Augen hält, was wir den Tieren für eine kurze Gaumenfreude antun – und dass dies nicht in Ordnung ist.
Fragwürdige Versuche, die Schweizer Landwirtschaft im Ländervergleich auf ein Podest zu stellen, gibt es dauernd. Es heisst: «Massentierhaltung gibt es nicht in der Schweiz». Damit wird einerseits die intuitive Vermutung, dass Massentierhaltung nicht korrekt ist, bestätigt. Anderseits kommt verstärkt die Frage auf, woher denn die angeblich inländisch produzierten Fleischmassen kommen.
Doch, es gibt haufenweise Massentierhaltung in der Schweiz, was allerdings nicht davon abhält, Unmengen fleischiger Billigware zu importieren.
Wie stimmst du bei der Massentierhaltungsinitiative ab?
Die Trute Hailey vom Lebenshof der Tierethikerin Sarah Heiligtag. Bild: Hof Narr
Was du nicht willst, das man dir tu‘
Aber was dürfen wir grundsätzlich mit Tieren tun? Für die Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, die Perspektive der Tiere einzunehmen und den Ethikaspekt zu betrachten.
Ethik beginnt immer mit einer Grundvoraussetzung. Zum Beispiel: «Alle streben nach Glück». Daraus werden Schlüsse wie «Niemand soll unnötig leiden» abgeleitet und daraus folgt dann eine Pflicht für das handelnde Subjekt, niemandem unnötig Leid zuzufügen. Um zu verstehen, inwiefern eine Handlung Leid bringt, empfiehlt es sich, die Perspektive zu wechseln und sich zu fragen: Wie geht es dem Anderen bei einer möglichen Handlung? Daraus formulierte sich die sogenannte goldene Regel, die aus dem ethischen Gleichheitsprinzip folgenden Leitsatz formuliert. «Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem anderen zu.»
Das Gleichheitsprinzip selber stellt fest, dass empfindungsfähige Lebewesen Interessen haben, dass gleiche Interessen, gleich zu berücksichtigen sind und dass die Interessen aller Involvierter in die Waagschale einer Entscheidung gelegt werden müssen.
Wofür wird gelitten? Gibt es Alternativen?
Ein Lebewesen leidet, wenn die Erfüllung seiner Interessen verhindert wird. Da Leid nicht immer vermieden werden kann, kommt anderseits die Frage auf: Wofür wird gelitten? Gibt es Alternativen, durch die sich Leid zumindest reduzieren lässt?
Die Tierethik beleuchtet, was wir mit Tieren tun dürfen und was nicht. Tiere sind ganz klar leidensfähig. Sie sind zudem diejenigen Lebewesen, welche am meisten anderen Interessen untergeordnet werden. An erster Stelle in der Tierproduktion, wo der kurzzeitige Genuss tierischer Produkte einem erfüllten Leben in entsprechender Umgebung vorgezogen wird.
Unnötiges Leid ist nicht zu rechtfertigen
Gemäss allen ethischen Theorien ist das Zufügen unnötigen Leids nicht zu rechtfertigen. Doch nicht jeder Mensch ist in der ethischen Logik oder Rationalität zuhause. Inwieweit die Theorie in der Praxis angekommen ist, zeigt ein Blick auf das gesellschaftliche Verständnis für Tiere. Die hiesige Gesellschaft ist sich mehrheitlich einig, dass Tiere leidensfähige Individuen sind und ihnen nicht grundlos Leid oder Schaden zugefügt werden darf. Allerdings wird das nur bedingt und vor allem bei Haustieren umgesetzt, aber dieser Konsens ist bereits eine zentrale Bedingung, den aktuellen Umgang mit den sogenannten Nutztieren (sowie allen anderen Formen der Tiernutzung) scharf zu hinterfragen.
Wir behandeln Hunde und Schweine ungleich – das ist unlogisch
Die logische Integrität ist einfach zu verstehen, indem wir den Wert von Hunden mit demjenigen von Schweinen vergleichen, wobei letztere bezüglich Empfindungs- und Lernfähigkeit, Sozialität sowie Bedürfnissen Hunden in nichts nachstehen. Von der Wissenschaft werden sie sogar als intelligenter eingestuft. Zwar bedeutet Intelligenz keineswegs höhere Wertigkeit. Aber es zeigt doch, wie irrational und willkürlich die Ungleichbehandlung von Hund und Schwein ist.
Viele würden ihren Hunden alles geben, Schweine hingegen fristen ein Leben ohne jegliche Gerechtigkeit. Dass wir die einen streicheln und die anderen essen, ist eine Form des sogenannten Speziesismus, nachdem aufgrund von äusserlichen Merkmalen gewisse Tierarten (Spezies) systematisch diskriminiert werden. Alle ethischen Theorien stimmen überein, dass das gute Leben eines Tieres dem kurzfristigen Fleischgenuss vorzuziehen ist, sofern sonstige Ernährungsmöglichkeiten bestehen. Und da wir uns mühelos anders ernähren können, ist die Antwort auf die Frage «Dürfen wir heute noch Tiere essen?» aus ethischer Sicht ein ganz klares Nein.
Die Massentierhaltungs-Initiative – eine Chance für das Schweizer Heidiland-Image
Die landwirtschaftlichen Pseudoargumente, die Schweiz hätte das beste Tierschutzgesetz und sei obendrein ein Grasland, halten sich indessen hartnäckig. Schwein, Huhn oder Trute ist es wohl egal, ob es Tieren in anderen Ländern noch schlechter geht. Denn sie haben nur ihr eigenes Wohlempfinden, welches auch bei einigen Zentimetern mehr Platz massiv eingeschränkt ist. Aufgrund der harten Fakten wäre es ihnen (sie machen doch 70 Prozent der Nutztiere aus) ausserdem völlig neu, dass sie von Grasland ernährt werden.
Durch Umsetzung der Massentierhaltungs-Initiative wäre es nun möglich, diese leider unzutreffenden Aussagen zu korrigieren sowie Behauptung und Realität einander anzugleichen. Läge es nicht in der Verantwortung aller, die tatsächlichen Zustände dem so gern via Swissness verkauften, heilen Heidiland-Image etwas näher zu kommen?
Ein Mindestmass an würdigem Umgang
Natürlich kann die Massentierhaltungs-Initiative den Bedürfnissen der Tiere nur bedingt genügen, aber sie ist ein wichtiger Schritt in Richtung Anpassung der gesetzlichen Bestimmungen und an die Erwartungen des gesellschaftlichen moralischen Konsenses.
Die Initiative deckt immerhin ein absolutes Mindestmass an würdigem Umgang mit den sogenannten Nutztieren ab. Sie fordert lediglich den täglichen Zugang ins Freie, kleinere Gruppen (weniger Stress), sanftere Schlachtmethoden, ein bedürfnisgerechtes Leben und Importe, welche den Schweizer Standards entsprechen.
Hühner sind Intelligenzbestien: die kognitiven Fähigkeiten übersteigen die eines Kleinkindes und sind ähnlich wie die einer Katze oder eines Hundes. Nur behandeln wir sie nicht so. Bild: istock.com
Zugang ins Freie ist heute also keine Selbstverständlichkeit, was die Missstände der aktuellen Situation deutlich macht.
Wir machen das Tier zur Grossvieheinheit
Vermutlich wäre Mathildas Meinung dazu: „Für ein artgerechtes Leben, das sich nicht auf vier Monate beschränken sollte, braucht es allerhand mehr.“ Würden wir die Tiere als Individuen anerkennen und nicht als GVE (Grossvieheinheiten) rechnen, wäre es klar, wie sehr sie in der Massentierhaltung gefangen sind. Im Abstimmungsbüchlein des Bundes wird diesbezüglich in die Irre geführt. „78 Prozent der Nutztiere konnten regelmässig nach draussen“, heisst es da. Das stimmt insofern nicht, als sich die 78 Prozent auf Grossvieheinheiten beziehen. Eine Kuh entspricht einer GVE, Mastschweine 0,17 GVE, Masthühner 0,004 GVE. Bei 78 Millionen Hühnern, die in der Schweiz pro Jahr gezüchtet und geschlachtet werden, sieht die Bilanz darum anders aus. Nur 13 Prozent aller Tiere haben Auslauf. Selbst die NZZ schrieb „Wie der Bund sich das Tierwohl schönrechnet“.
Und wenn nicht mehr von einzelnen Tieren, sondern von Bestand und Grossvieheinheiten gesprochen wird, bewegen wir uns in einem ethisch nicht mehr zu rechtfertigenden Bereich.
Eine Chance für die Bauern
Weitere Subjekte der ethischen Fragestellung, die in der aggressiven Gegenargumentation gerne verdreht wird, sind die Landwirte selbst. Die «lieben» Bergbauern, welche ebenfalls für viele Statements hinhalten müssen, betrifft diese Initiative natürlich nicht. Sie ist auch keine Initiative gegen die Bauern. Sie ist eine Chance für sie. Die Zeichen der Zeit zeigen alle weg von hohen Tierbeständen. Denn sie sind nicht nur ethisch, sondern auch bezüglich Ökologie und Ressourceneffizienz nicht zukunftsfähig. Mit dem Schritt in eine Schweiz ohne Massentierhaltung bietet sich für die Landwirtschaft eine reelle Chance, längerfristig tragfähig arbeiten zu können.
In Gerechtigkeitsfragen hinkt die Schweiz bekanntlich oft hinterher, man denke an die späte Einführung des Frauenstimmrechts. Nun hätte sie die Gelegenheit, mit der Massentierhaltungs-Initiative als Pionierin nicht nur ihrem Heidiland-Image eher gerecht zu werden, sondern auch eine Vorbildfunktion für andere Länder einzunehmen.
Kann in-vitro-Fleisch die Massentierhaltung zukünftig eindämmen? Lies den Artikel dazu!
Merci d’exister, Sarah!
Liebe Sarah,ich bin begeistert von Menschen wie Dir! Seit Jahren lebe ich vegan und habe eine hohe Achtung vor Gott, seiner Schöpfung und seinen Tieren. Die Anmassung der Menschen, andere Lebewesen auszubeuten, bereitet mir persönlich viel Leid. Ich bete täglich für die Tiere und alle Menschen, die wie du, für sie einstehen. Unendlicher Dank für deine Arbeit! Gottes reicher Segen und Schutz, auch für all deine Lieben! Herzliche Grüsse von Carmen
Danke für deinen sehr informativen Artikel. Ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg bei deiner Mission.
Grüsse an Mathilda
Grossartig! Innigen Dank für die klaren Gedanken und Worte.
Lieber als vom Ausland.
Menschen wie Sarah Heiligtag öffnen hoffentlich endlich dem hinterletzten endlich die Augen. Der Mensch ist Weltmeister im Verdrängen und sich selbst belügen, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Aber das bestehende Tierleid (auch in der Schweiz) für einen kurzen Gaumenschmaus weiter hinzunehmen, würde von totaler Ignoranz und Kaltherzigkeit zeugen. Diese Initiative ist eine Chance und bietet den Anfang für einen Weg, die Würde aller Lebewesen zu respektieren.
Liebe Sarah,
vielen herzlichen Dank für diesen wunderbaren Beitrag. Menschen wie du geben mir Hoffnung. Ich bin froh, dass es dich gibt.
Herzlichen Grüße
Katharina