Gerodete Flächen des Amazonas-Regenwalds: Über 90 Prozent der Abholzung in Brasilien geschieht illegal. Bild: istock.com
Wer sich mit der Klimakrise beschäftigt, kommt nicht um das Thema Amazonas herum. Seit die Besorgnis über die globale Erwärmung jede Ecke der Welt erreicht hat, ist es unmöglich, nicht mit Fassungslosigkeit auf das zu schauen, was im Regenwald mitsamt seinem gigantischen Süsswasserfluss geschieht.
Die Lungen der Welt sind zu einer Art Schiedsrichter geworden, der über unser Überleben entscheiden wird – oder zumindest über die Art, wie wir überhaupt noch leben werden. Eines ist jedoch sicher: wissenschaftlichen Studien zufolge steht der Amazonas-Regenwald kurz davor, sich in eine Savanne zu verwandeln. Und diese Umwandlung könnte für die Menschheit gravierende Folgen haben. Wenn der Regenwald zur Savanne wird, wird der Amazonas nicht mehr Kohlenstoff binden, sondern ausstossen. Er wäre nicht länger ein hervorragender Produzent von Niederschlägen und Regulator der planetarischen Temperatur. Seine Aufgabe, die biologische Vielfalt und die ursprünglichen Bewohner zu beherbergen, würde immer schwieriger werden. Es liegt auf der Hand, dass seine Zerstörung die Klimaziele unmöglich machen würde.
Die Erhaltung des grössten tropischen Regenwaldes der Welt (sieben Millionen Quadratkilometer) ist in diesen entscheidenden Jahren von grosser Bedeutung. Und die Nachrichten darüber, was in Brasilien geschieht, sind mal ermutigend, mal beunruhigend. Warum Brasilien? Es ist das Land, das von den neun Ländern, die das Amazonasgebiet bilden, die grösste Fläche (64 Prozent) einnimmt.
Historische Dürreperiode im Jahr 2023
Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2023 durchläuft Brasilien eine historische Dürreperiode, die durch das Wetterphänomen El Niño begünstigt wird. Das reduziert den Abfluss des Amazonas erheblich. Fisch- und Pflanzenarten sterben aus, Berge werden weggespült, es gibt Probleme mit dem Trinkwasser. Dazu ist es schwierig, die Nahrungsmittelproduktion aufrechtzuerhalten.
Betrachtet man die Situation über einen längeren Zeitraum, so fällt im Amazonas nicht mehr so viel Regen wie in früheren Jahren. Der Zeitraum 2019-2020 war das zweitwärmste Jahr im Regenwald seit 1960, mit einem Anstieg von 1,1 °C. Etwa 17 Prozent des Amazonas-Regenwaldes wurden für menschliche Nutzung abgeholzt.
In diesem ersten Monat des Jahres 2024 leiden 60 der 62 brasilianischen Städte im Amazonasgebiet unter Trockenheit, und 21 von ihnen haben den Notstand ausgerufen. El Niño ist nicht der einzige Faktor, sondern vor allem auch die sich kontinuierlich zuspitzende Klimakrise, Abholzung, Brände und Landnutzungsänderungen (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergbau).
«Wir stehen am Rande des Abgrunds»
Carlos Nobre, Wissenschaftler an der Universität von São Paulo, sagte kürzlich in einem Interview: „Wir stehen am Rande des Abgrunds.» Nobre ist einer der Wissenschaftler, die sich mit dem Prozess der Savanisierung des Amazonasgebiets befassen. Und er hat einen Wiederaufforstungsplan vorgelegt, der auf der COP 27 diskutiert wurde.
In diesem Sinne ist der Regierungswechsel im Januar 2023, als Lula da Silva ins Präsidentenamt Brasiliens zurückkehrte und der Klimaleugner Jair Bolsonaro in die Vereinigten Staaten floh, eine notwendige Bedingung. Ob sie ausreicht, steht auf einem anderen Blatt.
Fortschreitende Zerstörung: Die rot und hellrot eingefärbten Gebiete zeigen abgeholzte und umgewandelte Flächen des Amazonas-Gebiets, welche durch Brandrodung zum Teil enorme CO2-Emissionen verursachen. Grafik: RAISG
Lula versprach eine Nullabholzung der Wälder bis 2030. Das Vorhaben dürfte umso schwieriger werden, als schätzungsweise 90 Prozent der Abholzung illegal geschehen. „Brasilien ist vor allem wegen des Amazonas-Regenwaldes für das Klimagleichgewicht des Planeten verantwortlich“, sagte Lula im vergangenen Juni, als er seinen Wiederaufforstungsplan vorstellte. Diesen hatte er bereits 2004 initiiert und die Abholzung bis 2012 um 83 Prozent reduziert. Unter Bolsonaro nahm sie hingegen wieder um 75 Prozent zu. Der rechtsextreme ehemalige Präsident hatte die Umweltgesetzgebung und die Arbeit der Kontrollorgane „flexibilisiert“ – im Prinzip schlicht ausser Kraft gesetzt. Dies kam dem illegalen Bergbau und den Grossgrundbesitzern Vorteil.
66 Prozent des Amazonasgebiets belastet
Derzeit sind 66 Prozent des Amazonasgebiets in irgendeiner Form dauerhaft oder vorübergehend belastet. Diese Zahlen gehen aus einem von Amazon Watch zitierten Bericht aus dem Jahr 2022 hervor. Dort steht auch, dass 34 Prozent des brasilianischen Amazonasgebiets bereits umgewandelt worden sind.
Im ersten Jahr der Rückkehr Lulas ins Präsidentenamt wurde die Entwaldung halbiert. Doch die Zerstörung schreitet weiter voran. Das bolivianische Amazonasgebiet ist bereits um 24 Prozent geschrumpft, jenes in Ecuador um 16 Prozent, in Kolumbien sind es 14 Prozent und Peru 10 Prozent. Auch hier handelt es sich um die definitiven Zahlen für das Jahr 2022. Die aktuellen Werte dürften nochmals deutlich höher liegen.
Auftragsmorde an Umweltschützern
„Die Verhinderung der Abholzung im Amazonasgebiet wird dazu beitragen, die globale Erwärmung zu reduzieren“, sagte der brasilianische Präsident, als er im Juni 2023 seinen Plan vorstellte, der die Schaffung neuer Naturschutzgebiete und eine verstärkte Überwachung krimineller Aktivitäten vorsieht. Die Kriminalität ist eines der grössten Probleme des Amazonasgebiets, zusätzlich zu den oben genannten Problemen.
Nach Angaben von Amazon Watch hat im Jahr 2022 jeder fünfte Mord an Umweltschützern im Amazonasgebiet stattgefunden. Die immer aktivere Präsenz von Auftragsmördern ist ein Problem in der Region. Die Gründe dafür sind illegaler Holzeinschlag, Goldabbau und Kokaanbau (aus dem Kokain hergestellt wird). Wie im bekannten Fall des Drogenhandels besteht eines der grössten Probleme darin, dass die Banden die Kinder der indigenen Bevölkerung beschäftigen, was die Sache noch schwieriger macht. Die Kriminalität ist eine Möglichkeit für gefährdete Bevölkerungsgruppen, Geld zu verdienen.
Was kann Brasilien tun? Lula ist entschlossen, seinen Teil dazu beizutragen, indigenes Land zu schützen und die Entwaldung zu überwachen. Können diese Ziele erreicht werden, wenn man die alten Ziele von unendlichem Wirtschaftswachstum, Fortschritt und Entwicklung weiterverfolgt, die der Natur einen Bärendienst erweisen? Lula versucht sich hier in der Quadratur des Kreises.
Illegale Brandrodung für den Sojaanbau als Futtermittel: Wissenschaftler fordern ein neues Agrarmodell für den Amazonas-Regenwald. Bild: istock.com
Neues Agrarmodell für Amazonas-Regenwald gefordert
Laut Nobre ist es notwendig, die Entwaldung auf Null zu reduzieren, die Degradierung des Waldes zu vermeiden und zu einem naturfreundlichen Agrarmodell überzugehen. „Eine neue Wirtschaft, die die biologische Vielfalt und die indigenen Kosmovisionen berücksichtigt. Sie leben seit mehr als 12’000 Jahren und haben eine Lebensweise entwickelt, die auf den Wald ausgerichtet ist“. Nobre zufolge ist dies eine der grössten Herausforderungen: die Umgestaltung des Agrarsektors, der von der extremen Rechten und den Leugnern des Klimawandels dominiert wird. In den Gebieten, wo Soja auf gerodeten Gebieten im grossen Stil angepflanzt wird, ist Lula eine verhasste Figur.
Brasiliens Aufgabe ist eine Herkulesaufgabe: die Abholzung und das organisierte Verbrechen sollen eingedämmt werden, dazu soll das von Soja dominierte Agrarmodell umgestaltet werden, das zu grosser Zerstörung der Waldflächen führt. Auf einem Gebiet so gross wie Deutschland wächst derzeit Soja in Monokultur. Brasilien ist damit neben den USA zweitgrösster Produzent von Soja, der in erster Linie für die Futtermittelproduktion gebraucht wird. Aber selbst wenn die brasilianische Regierung und die Bevölkerung ihre Ziele erreichen und den Agrarsektor über die Jahre umbauen, könnte der Klimawandel, der durch das Handeln und Nichthandeln der Grossmächte der Welt angetrieben wird, zu den schlimmsten Ergebnissen in der grossen Lunge des Planeten führen.
Wie bei den meisten Variablen in der Klimakrise gibt es Rückkopplungsschleifen, die es unmöglich machen, einige der nachteiligen Folgen der globalen Erwärmung einzudämmen. Die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre nimmt weiter zu, und es ist unmöglich, dass sich beim Blick auf den Amazonas-Regenwald keine Beunruhigung einstellt.
Lies zum Thema Wald auch: „Bäume pflanzen? Wir sollten besser die Abholzung stoppen!“
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Wir müssten auf unseren Produkten wie Fleisch auch deklariert haben, woher die Futtermittel kommen. Es nützt mich nichts, wenn ich (als Mensch, der kaum Fleisch isst) guten Gewissens ein Stück Schweizer Fleisch kaufe, aber der Futtersoja kommt aus Brasilien, wo dafür der Regenwald abgeholzt wurde.