«Wir brauchen ein Umdenken im Umgang mit Mode und Konsum»

5 Minuten
26. Oktober 2023

Wie gehen Menschen in Ländern, wo Mode hergestellt wird, mit ihrer Kleidung um? Unsere Autorin Mara Rodriguez, eine Expertin in Sachen nachhaltiger Mode, hat das auf ihrer Reise durch Indien, Mexiko und Peru unter die Lupe genommen. Sie findet: Der Überfluss von Gütern und Konsum in Europa ist im Vergleich eklatant. «Wir sollten das Konzept des Wegwerfens hinterfragen und die Kultur des Flickens wieder aufleben lassen», sagt sie.

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Umdenken Mode

Eine indische Näherin: Im Land können sich die meisten Menschen keine Bioprodukte leisten, die sie selbst produzieren.  Bild: istock.com

Für dich als Leser:in dieses Magazins ist glasklar, dass wir dringend eine nachhaltigere Lebensweise brauchen. Oft hören wir aber auch, dass ein nachhaltiger Lifestyle teuer ist und somit ein Privileg, das sich nur Reiche leisten können. Aus der Perspektive «ökologisch einkaufen» stimmt das natürlich. Bio und fair zu kaufen ist leider immer noch kostspieliger als die weniger umwelt- und körperfreundlichen Alternativen. Wenn wir statt von nachhaltigem Konsum jedoch von einem nachhaltigen Lifestyle ausgehen, dann ist ein nachhaltiges Leben tatsächlich günstiger. Wenn wir Dinge aufbrauchen, kaufen wir viel weniger Neues. Gegenstände wie Kleider, Elektronik oder Möbel können viel länger in Gebrauch sein und bei Schäden repariert werden, was insgesamt weniger Ressourcen und Geld verbraucht. Meine Grosseltern, die in der (Nach-)Kriegszeit aufgewachsen sind, wussten das. Damals, als die Gesellschaft noch nicht so konsumorientiert war und die Menschen schlichtweg nicht die Möglichkeit hatten, sich wöchentlich ein neues Kleidungsstück zu kaufen.

Was heisst eigentlich nachhaltig?

Während meiner viermonatigen Bildungsreise nach Indien, Mexiko und Peru, um meine Recherche über natürlichen Fasern, Handwerk und Nachhaltigkeit in der Modebranche zu erweitern, bekam ich einen Einblick in verschiedene Kulturen und Lebensweisen. Und mein Begriff von Nachhaltigkeit schärfte sich. Neben aufschlussreichen Gesprächen mit Bauern und Bäuerinnen, wie auch mit verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Initiativen im sozialen und ökologischen Bereich, lernte ich auch viel über die Gewinnung ökologischer, wie auch konventioneller Fasern und deren Verarbeitung. All das führte mich zu einem neuen Standpunkt.

Webrahmen Indien

Eine Arbeiterin an einem breiten Webrahmen für Heimtextilien im indischen Erode.  Bild: Mara Rodriguez

Stell dir vor, du kommst in Indien an und möchtest, um die hiesige Kultur zu respektieren, einen Sari tragen, aber (einem nachhaltigen Lifestyle entsprechend) einen ökologisch-zertifizierten. Tatsächlich habe ich in meinen zwei Monaten dort keinen einzigen gefunden – und an fehlendem Effort hat es sicherlich nicht gelegen.

Indien: unerschwingliche Bio-Produkte

Indien ist der weltweit grösste Biobaumwollproduzent. Doch die meisten Güter, die daraus gefertigt werden, sind für den europäischen und amerikanischen Markt bestimmt. Dies liegt laut verschiedenen Produzenten an der steigenden Nachfrage nach ökologisch produzierter Ware in Industrieländern, wie auch an fehlender Kaufkraft in den Produktionsländern. Die Preisdifferenz der Produktion eines Biobaumwollshirts und einem aus konventioneller Baumwolle beläuft sich auf ungefähr 70 Rappen. Dieser Betrag verdreifacht sich bis zum Verkauf in einem Laden in Europa durch addierte Taxen, Transport und Ladenkosten. Diese zwei Franken sind für die meisten von uns europäischen Endkundinnen wirklich belanglos – der umwelttechnische Unterschied ist jedoch enorm. Nebst dem Fakt, dass diese 70 Rappen für viele Einheimische tatsächlich einschneidend sind, hat die Mehrheit der indischen Bevölkerung schlichtweg nicht das Privileg, sich auch noch um das Wohlergehen unseres Planeten zu sorgen.

Kein Geld, aber ein nachhaltiger Lifestyle

Das heisst nicht, dass sie nicht nachhaltig leben, sondern dass die tägliche Herausforderung, sich selbst und die Familie zu ernähren, verständlicherweise oberste Priorität hat. Trotzdem ist es nicht wirklich überraschend, dass der Durschnittsmensch in verschiedenen Ländern – in Entwicklungs- und Schwellenländern – viel nachhaltiger lebt als wir in den Industrieländern. Durch die beschränkten Möglichkeiten haben die Menschen in Entwicklungsländern die Gewohnheit, Dinge aufzubrauchen, anstatt sie zu ersetzen, obwohl sie nicht kaputt sind. Eine Plastiktüte wird gewaschen und gebraucht, bis sie auseinanderfällt, Möbel werden geflickt, anstatt entsorgt, und Essensreste werden niemals weggeworfen. Den Überfluss an Gütern und Konsum, mit dem wir in Europa leben, gibt es dort praktisch nicht. Oder ist nur in den wohlhabendsten Gesellschaftsschichten Realität.

Ein zweites Leben für die Kleidung

Doch was heisst das in Bezug auf Kleidung? In Indien sind Leute jeder Gesellschaftsschicht fast ausnahmslos gut und frisch gekleidet. Es kann deshalb auch dort nicht einfach aus der äusseren Erscheinung einer Person auf ihre finanzielle Situation geschlossen werden. Vielmehr gehört es zum Lebensstil, dass die wenigen Habseligkeiten mit viel Fürsorge verwendet und auf diese Weise lange gepflegt und getragen werden können. Kriegt ein Sari irgendwann doch ein Loch und ist nicht mehr tragbar, so wird er mittels einer traditionellen Patchwork-Technik als Decke oder Matte im eigenen Haushalt wiederverwendet.

Stickarbeit Mexiko

Eine typische Stickarbeit in San Antonin Castillo Velazco im mexikanischen Oaxaca.  Bild: Mara Rodriguez

Mexiko: Beschädigte Kleidung wird durch Besticken geflickt

In Mexiko hingegen wird es anders handgehabt. In vielen Dörfern tragen die Menschen traditionelle Kleidung – also vor allem handgewoben und bestickt. Die Kleidung wird auch durch Besticken geflickt, womit der Schaden unsichtbar gemacht wird. Die Leute kaufen sich einmal pro Jahr neue Kleidung – zum traditionellen Dorffest für den jeweiligen Schutzheiligen. Dafür kaufen sie im Ort eine neue Tracht oder machen sie gleich selbst. Die Menschen in Mexikos urbanen Gebieten richten sich jedoch immer stärker nach der Mode der USA. Hier gibt es auch keine traditionelle Kleidung mehr, sondern Billigmode von der Stange. Nachhaltigere und bezahlbare Alternativen sind leider kaum zu finden.

Alpakas Anden

Alpakas in den Anden bei Arequipa – die Gewinnung der Wolle ist hier nicht nur tierfreundlich und die Verarbeitung ökologisch, auch die wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit ist hier gegeben.  Bild: Mara Rodriguez

Peru und die nachhaltige Alpakawolle

Peru bietet wiederum Verschiedenes. Hier gibt es ein unglaubliches Angebot an Kleidungsstücken aus Alpakawolle und Pimabaumwolle (eine lokale, langfaserige Baumwollart). Die einheimische Textilproduktion ist sehr stark im lokalen Verkaufsangebot vertreten. Vieles was verkauft wird, wurde auch vor Ort produziert. Trotzdem gilt es in Bezug auf Nachhaltigkeit auch hier genauer hinzuschauen. Viele Alpakaprodukte sind gemischt mit Schafswolle oder synthetischen Fasern – letzteres ist vor allem dadurch problematisch, weil es nicht rezyklierbar ist. Generell ist Alpakawolle jedoch eine der nachhaltigsten tierischen Fasern auf dem Markt ist. Produkte, die zu 100 Prozent aus Alpakawolle bestehen, die nicht toxisch gefärbt wurden und deren soziale Komponente berücksichtigt wurde, sind schon nachhaltig, ohne so benannt zu werden.

Löcher stopfen auf der Busfahrt

Ausserdem wird auch hier viel repariert. Mehr als einmal hat eine Person im Bus neben mir einen Pulli mit Loch hervorgezogen und angefangen, das Loch zu stopfen. Die grosse Ausnahme ist auch hier wohl die Hauptstadt Lima. Als Grossstadt ist hier zwar ein Grossteil der Industrie angesiedelt, jedoch kaufen die Leute dort überwiegend in Warenhäusern ein, wo neben lokalproduzierter Billigmode auch Importware angeboten wird.

Nachhaltigkeit – ein ganzheitliches Bild des „miteinander“

Generell kann gesagt werden, dass in diesen Ländern Nachhaltigkeit mit Lokalität zu tun hat. Es wird deutlich mehr exportiert als importiert und eingekauft wird auf dem örtlichen Markt – von Nahrungsmitteln direkt vom Bauern bis zur Kleidung von Kooperativen aus den Dörfern. Nachhaltigkeit bedeutet in diesen Orten, die unmittelbare Kultur am Leben zu halten, die Gemeinschaft zu unterstützen und den Besitz wertzuschätzen und zu pflegen. Es geht vielmehr um ein ganzheitliches Bild des «miteinander» im Gegensatz zu unserem sehr individualistischen, kapitalistischen Bild von Nachhaltigkeit.

Gemeinschaftliches und individuelles Umdenken ist gefragt

Die Reise hat mir deutlich gemacht, dass die umstrittene vierte Säule der Nachhaltigkeit – die kulturelle – tatsächlich jene ist, welche Veränderung bringt. Wir können noch so sehr versuchen, den ökologischen Fussabdruck zu senken, die sozialen Bedingungen zu verbessern und funktionierende ökonomische Systeme zu schaffen. Aber wir brauchen sowohl ein gemeinschaftliches, als auch ein individuelles Umdenken im Umgang mit Waren und einen grösseren Fokus auf Lokalität, um wirklich nachhaltig werden. Wir sollten das Konzept des Wegwerfens hinterfragen und die Kultur des Flickens wieder aufleben lassen. Anderenfalls ist zwar der Schaden pro Stück kleiner, doch im Gesamtbild immer noch steigend, da wir immer noch kontinuierlich mehr konsumieren.

Fragen, die ich mir stellen sollte

Diese Reise – und vor allem die vielen aufschlussreichen Gespräche zu diesem Thema, sowie das Kennenlernen der unterschiedlichen Realitäten der Personen am anderen Ende der Wertschöpfungskette – hat mich dazu bewogen, die Problematik von nun an auch aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Wie wir die Kultur der Wertschätzung in unseren Breitengraden wieder mehr in den Fokus rücken können, bleibt eine grosse Frage. Für unsere Selbstreflexion könnten wir uns bereits einmal folgende Fragen stellen:

  • Wie alt ist mein ältestes Kleidungsstück?
  • Wann habe ich zu letzten Mal etwas selbst repariert?
  • Gibt es bei meinen Besitztümern einen Zusammenhang zwischen Herkunft (Geschichte/Erbstück/Selbstgemacht) und Alter? An welchen meiner Besitztümer hänge ich besonders und wieso?
  • Was werfe ich alles weg, was noch verwendbar ist? (beispielsweise Konfiglas oder Socke mit Loch, das gestopft werden könnte)
  • Wie viel Geld gebe ich monatlich für Güter aus?
  • Welche Kleidungsstücke habe ich im vergangenen Halbjahr gekauft?
  • Welche Kleidungsstücke waren wirklich nötig?
  • Wieviele Kleidungsstücke sind nicht mehr als zweimal getragen?
  • Wie viel Geld hätte ich sparen können, hätte ich diese Stücke nicht gekauft, sondern beispielsweise geliehen?

Die letzte Frage schliesst auch den Bogen zur ursprünglichen Aussage: Ein wirklich nachhaltiger Lifestyle ist günstiger. Ohne Zweifel.

Lies hier mehr zu Secondhand-Einkäufen und Secondhand-Läden in Zürich und St.Gallen.

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Autor:in: Mara
Rodriguez
Mara Rodriguez hat Modedesign studiert und ist Expertin für Nachhaltigkeit in der Mode.
fiberstorm.ch
Kommentare
  • Avatar-Foto Franzi:

    Wie alle anderen Tiere in der Wollindustrie sind auch Alpakas nur ein Mittel zum Zweck. So romantisch das alles klingen mag, die Alpakas sind leider keine Ausnahme, was die Ausbeutung von Tieren in der Wollindustrie betrifft. Sie sind zwar zum Trend-Tier erkoren worden. Doch leider schützt es sie nicht davor, lediglich ein Mittel für hohe Gewinne zu sein.

    Abgesehen von den Missständen in der Tierhaltung sind Alpakas ebenso ein Teil der landwirtschaftlichen Tierhaltung, die mehr CO2 als der gesamte Verkehrssektor ausstösst. Davon ist auch die Produktion von Alpakawolle als enormer Treiber der Klimakatastrophe nicht ausgeschlossen.

    Nachhaltige Mode sollte meines Erachtens den Blick weiten und auch die Rechte der Tiere in die Wertschöpfungskette miteinbeziehen.

    Als Konsument hat man die Wahl sich dafür einzusetzen, indem man Alternativen wie Lyocell, Bio-Baumwolle, Hanf oder recyceltes Polyester wählt.

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